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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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offensichtlich war sie vom Wunsch getrieben, anderen zu helfen, denen es schlechter ging als ihr selbst. Das drückte sich in ihrer sanften, leisen Stimme aus, in ihrem verständnisvollen Lächeln, vor allem aber in ihrer Haltung, ihrem schiefgelegten Kopf. Nevada war sich sicher, dass ihre Schultern schmerzten, wenn sie abends nach Hause kam, dass sie kaum mehr die Arme heben konnte, um den Küchenschrank zu öffnen, und dass ihr manchmal der Dosenöffner aus der Hand fiel, wenn sie die Futterkonserve für ihre Katze öffnen wollte. Irgendwann würde ihr Nacken die angestrengt mitleidvolle Haltung mit einem eingeklemmten Nerv quittieren.
    Â«Keine Sorge», sagte Nevada freundlich. «Ich hab Sie schon richtig verstanden. Ich könnte ja auch geheilt werden. Und dann würde ich den Rollstuhl selbstverständlich zurückbringen.»
    Sierra schnaubte. Sie hielt Mitgefühl für eine überflüssige Marotte, die das Leben nur unnötig langsam und kompliziert machte. «Wenn jeder nur an sich denken würde», sagte sie oft, «dann wäre alles viel einfacher. Was würde man sich ersparen an endlosem Palaver, sinnlosem Hin und Her, mühsamen Umwegen …»
    Die Beraterin hatte sich entschlossen, Sierra zu ignorieren. Sie wandte sich an Nevada und sagte: «Wollen wir ihn einmal ausprobieren?»
    Â«Gerne.» Auch Nevada ignorierte Sierras Schnauben. Die Verkäuferin lebte wieder etwas auf. «Immer erst die Bremsen fixieren. Sonst kommt es nicht gut.» Sie zeigte Nevada, wie sie den entsprechenden Hebel mit der Krücke betätigen konnte. Jetzt war sie in ihrem Element. «Dann am besten nicht direkt davorstehen, sondern mehr so seitlich hineingleiten. Ja, genau so, das machen Sie sehr gut.» Nevada war eine gute Kranke. Sie tat, was man ihr sagte, und ließ ihre Gefühle nicht an Unschuldigen aus. Die junge Frau dankte es ihr mit immer ausführlicheren Erklärungen. Nevada ließ sich seitlich hineingleiten und war erstaunt, wie stabil sich der Sitz anfühlte. Die Sitzfläche und die Seitenwände bis zur Armlehne waren aus elastischem Material und schmiegten sich angenehm an.
    Â«Viel dicker dürfte ich aber nicht werden», sagte sie.
    Â«Es gibt natürlich verschiedene Ausführungen, auch für voluminösere Patienten. Aber zu viel Platz darf man eben auch nicht haben, sonst rutscht man. Irgendwann braucht man dann auch Gurte, wissen Sie, es gibt dann auch das Modell, in dem man an vier oder fünf Punkten fixiert ist.» Jetzt schaute sie Sierra an und sagte vorwurfsvoll: «Manche brauchen auch einfach irgendwann ein anderes Modell, wissen Sie. Dann müssen Sie …»
    Â«â€¦ dieses hier zurückbringen, ich verstehe.» Nevada antwortete schnell, bevor Sierra etwas sagen konnte. Das Funkeln in den Augen ihrer Schwester verriet ihre Lust daran, die Beraterin noch etwas zu quälen. Das, was man am liebsten tat, konnte man eben am besten. Das galt für jeden Beruf.
    Â 
3.
    Wenn sie gedacht haben sollte, dass ihr Leben nun einfacher würde, hatte sie sich getäuscht. Jede Zugfahrt musste sie vorausplanen, sich anmelden, in der Mitte des Bahnsteigs warten, hoffen, dass die Meldung bis zu den Zugbegleitern durchgedrungen war. Oft rannten diese den ganzen Bahnsteig hinauf und wieder hinunter, die faltbare Rampe unter dem Arm, weil sie sie ganz woanders vermutet hatten. Der Kondukteur pfiff, die Pendler wurden unruhig, und wenn sie Pech hatte, wurde sie zum Gegenstand einer Durchsage: «Die Weiterfahrt verzögert sich um wenige Minuten. Grund für diese Verspätung ist das Einladen eines Rollstuhls.»
    Und seines Inhalts, dachte Nevada dann. Und wich den Blicken der andern Passagiere aus, die ihr zu Stoßzeiten nur ungern Platz machten.
    Immer öfter bestellte sie ein Taxi. Das war bequemer. Dafür blieb es oft im Stau stecken, und Nevada kam in letzter Minute verschwitzt und gestresst zu ihren Lektionen.
    Nevada hatte sich für eine Wohnung in der Siedlung angemeldet. Sie wusste, dass sie als Rollstuhlfahrerin und als Mitarbeiterin in einem städtischen Schulprogramm mit Empfehlungen von allen Seiten nicht lange würde warten müssen. Vor allem, da alle Wohnungen in der Siedlung rollstuhlgängig waren. Eine außerterminlich frei gewordene Wohnung im Erdgeschoss war leider gerade vermietet worden, sagte man ihr. Aber es gab eine Wohnung im vierzehnten Stock, die sie auf den

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