Das wahre Leben
den Blumen. Sein Gesicht war gerötet. «Es tut ⦠mir leid! Ich habe es ⦠vergessen!»
«Was?»
Verzweifelt schaute sie zu ihm auf, aber aus eigener Kraft konnte sie nicht aufstehen, in seine Arme zurück. Die Lifttür öffnete sich, eine Traube von Menschen drängte herein, wartete ungeduldig, dass sie Platz machten. Dante suchte immer noch das Wort. Als er es endlich fand, schrie er es vor Erleichterung viel zu laut: «Die ⦠die ⦠Enthaltsamkeit!»
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2.
Dijana holte sie vom Bahnhof ab. Das Mädchen stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Rollstuhl, dessen Räder im Kies stecken blieben.
«Lass nur», sagte Nevada und bewegte den Stuhl mit den Händen vor und zurück, bis die Räder auf dem glatten Betonstreifen neben dem Kiesweg standen. Dieser wurde auch von Radfahrern und Skatern benutzt, die waghalsig um sie herum und an ihr vorbeizischten. Nevada zuckte jedes Mal zusammen. Sie wünschte sich, Elma wäre hier. Mit Elma fühlte sie sich weniger schutzlos.
«Ist Elma noch im Spital?», fragte Nevada.
«Nein, nicht mehr, ihre GroÃmutter hat sie gestern abgeholt. Elma wohnt bei ihrer GroÃmutter, wissen Sie. Sie ist sehr alt. Meine GroÃmutter lebt nicht mehr. Früher hat sie mich manchmal gehütet. Jetzt bin ich allein, wenn meine Eltern wegfahren. Ich bin ja kein Kind mehr. Aber ich vermisse meine GroÃmutter, ich habe sie gern gehabt.»
«Und Elmas Eltern?» Nevada dachte an die Formulare, die sie in dem Ordner gefunden hatte. Frau Rothenbühler hatte eine Tabelle angelegt, in der die wichtigsten Informationen über die Mädchen in Symbolen festgehalten waren. Oder was die Sozialarbeiterin für wichtig hielt. Sterne, Kreuze und Sichelmonde für die Religionszugehörigkeit. GroÃe und kleine Striche für Elternteile und Geschwister. Plus- und Minuszeichen in den Rubriken Schule, Sport, Gemeinschaft. Sie meinte, hinter Elmas Namen eine Reihe von Strichen gesehen zu haben.
«Ach, das weià niemand. Aber sie muss ja Eltern haben. Jeder hat Eltern. Vielleicht arbeiten sie woanders. Mein Vater arbeitet in einem Hotel in den Bergen. Wo die reichen Leute Ferien machen.»
Nevada hatte Mühe, Dijanas Redefluss zu folgen. Es war nicht leicht, ein Gespräch mit jemandem zu führen, der hinter einem ging. Sie musste immer wieder den Kopf verdrehen. Doch wenn ihr Gesprächspartner vor ihr stand, musste sie den Kopf in den Nacken legen, um zu verhindern, dass sie sich direkt an seine Geschlechtsteile richtete. Am schlimmsten war es, wenn jemand vor ihr niederkniete: Dann kam sie sich einfach blöd vor. Und musste dem Impuls widerstehen, ihre Hand auf den Kopf des Gegenübers zu legen und «Ich segne dich, mein Kind» zu murmeln. Der Rollstuhl mochte ihr eine gewisse Freiheit, die sie verloren geglaubt hatte, zurückgeben. Sie fürchtete sich nicht mehr vor längeren Wegen, sie traute sich wieder mehr aus dem Haus. Dafür tat ihr nun ständig der Nacken weh. Und ihr Blickfeld war mit Hinterteilen ausgefüllt. Es war nicht der Stuhl, es waren die anderen um den Stuhl herum.
«In den Bergen. Es ist sehr schön dort, es gibt einen See mit Pferden drauf â¦Â» Dijana wich einem Skater aus und fuhr den Rollstuhl auf den trockenen Rasenstreifen. Nevada wusste einen Moment lang nicht, wovon sie sprach. Ein See mit Pferden drauf?
«Und Schnee.»
«Du meinst in Sankt Moritz?»
«Genau. Sankt Moritz. Mein Vater arbeitet dort aber nur im Sommer.»
«Dann ist er jetzt in Sankt Moritz? Deine Mutter auch?» Sie würde alles, was Dijana ihr erzählte, genau so annehmen, hatte Nevada beschlossen. Auch wenn Dijana wirklich log, erzählten ihre Lügen eine Geschichte. Und in dieser Geschichte konnte mehr Wahrheit liegen als in den Tatsachen. Dijana ist ein Zelig, hatte Ted gesagt, ein Chamäleon. Wie kam sie dann bei Nevada auf Sankt Moritz? Hielt sie Nevada für reich? Oder war es gar nicht Elma, die von ihren Eltern allein zurückgelassen worden war, sondern Dijana?
«Nein, meine Mutter ist hier», sagte Dijana. «Sie schreibt ein Buch. Möchten Sie sie nicht mal kennenlernen?»
Nevada fasste einen Entschluss. «Ja, das möchte ich sehr gern», sagte sie. «WeiÃt du, dass ich selber bald ganz hierherziehen werde? Dann lade ich euch alle zu mir nach Hause ein. Zur Wohnungseinweihung.»
«Sie könnten doch auch bei uns
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