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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Frau nickte nur freundlich. Sie wartete, bis sich die Stille wieder gesetzt hatte, dann zog sie eine Hand aus den Untiefen ihrer Robe und legte sie auf Erikas Arm. Die Hand hatte ein beruhigendes Gewicht.
    Â«Ich bin Jujitso Sensei, die Lehrerin hier. Hast du schon einmal meditiert?»
    Erika öffnete den Mund, aber irgendetwas im Blick der Lehrerin sagte ihr, dass keine langatmige Erklärung nötig war. So schüttelte sie nur den Kopf.
    Â«Kannst du im Schneidersitz sitzen oder brauchst du einen Stuhl?»
    Â«Ich mache Yoga …», begann Erika und verstummte dann wieder.
    Die Sensei lächelte. «Sehr gut.»
    Mit einer Geste forderte sie Erika auf, ihre Schuhe auszuziehen und in die Reihe zu stellen. Erika streifte ihre Schuhe ab. Ihre Füße waren nackt. Sie schämte sich ihrer aufwendig verzierten Gelnägel. Sie fühlte sich mutlos. Dann führte die Lehrerin sie durch einen kurzen Flur zu einem nahezu leeren Zimmer. In der Mitte des Raums stand ein kleiner Altar. Eine Buddhastatue, ein paar Blumen in einem Wasserglas, eine Kerze. An den Wänden lag eine Reihe rechteckiger schwarzer Kissen. Auf drei oder vier davon saßen Leute. Im Schneidersitz auf einem zweiten, runden Kissen oder aufrecht auf einem Stuhl, der auf dem schwarzen Kissen stand. Sie hielten die Hände im Schoß und den Blick gesenkt, alle trugen Schwarz. Erika schaute an sich hinunter, die helle Jeans und das weiße T-Shirt, das sie fast täglich trug, wirkten fehl am Platz. Aufdringlich.
    Die Sensei legte eine Hand auf ihren Rücken, als hätte sie das gespürt. «Tu einfach, was die anderen tun», sagte sie.
    Doch die anderen taten nichts. Erika wartete einen Moment. Nichts geschah. Dann tauchte hinter ihr ein junger Mann auf. Er trug tiefsitzende schwarze Trainingshosen und einen leuchtend blauen Kapuzenpullover. Die Kapuze verbarg sein Gesicht. Erika fürchtete sich vor jungen Männern, die so aussahen. Wie Kriminelle. Obwohl sie wusste, dass Suleikas Mitschüler am Gymnasium, wohlerzogene und behütete Jungen, genauso angezogen waren. Sie presste ihre Tasche an sich. Der junge Mann lächelte ihr zu. Dann schob er seine Kapuze in den Nacken. Erika sah, dass er eine Glatze hatte. Ob das ein Zeichen höherer buddhistischer Weihen war? Einen Moment lang gab sie sich der Vorstellung hin, ihren eigenen Kopf kahlzuscheren, die halblangen blondgefärbten Haare loszuwerden und mit ihnen die Verpflichtung, alle drei Wochen zum Friseur zu gehen. Der junge Mann forderte sie mit einem Nicken auf, ihm zu folgen. Er legte die Handflächen zusammen und verbeugte sich in demselben Moment, in dem er über die Schwelle in den Raum trat. Erika versuchte es ihm nachzumachen, während sie gleichzeitig ihre Tasche an die Brust presste. Rechts neben dem Eingang stand ein hohes Gestell mit quadratischen Fächern. In den unteren stapelten sich runde schwarze Sitzkissen, in den oberen hatten die Teilnehmer ihre Taschen verstaut. Erleichtert stopfte Erika ihren Beutel zu den anderen und nahm sich ein Kissen. Der junge Mann stand immer noch neben ihr, geduldig wartend.
    Â«Brauchst du zwei?», flüsterte er. Erika schüttelte den Kopf. Sie würde nicht auf zwei Kissen sitzen. Schon gar nicht auf einem Stuhl. Sie machte schließlich Yoga. Sie folgte dem jungen Mann, der langsam an den Sitzenden vorbeiging, bis er vor zwei nebeneinanderliegenden leeren Matten stand. Er legte sein Sitzkissen auf eine davon, schüttelte es zurecht, dann richtete er sich auf und verbeugte sich vor seinem Kissen. Dann drehte er sich um und verbeugte sich noch einmal in Richtung des Altars in der Zimmermitte.
    Erika schaute genau zu und tat es ihm nach. Schon hatte sie tausend Fragen: Warum kann man nicht quer durch den Raum gehen, warum verbeugt man sich, vor wem? Warum vor dem leeren Kissen, auf dem ich gleich meinen Hintern platzieren werde?
    Sie speicherte all diese Fragen für später. Sie würde doch Fragen stellen dürfen? Die Sensei schlug auf einen Gong. Einmal, zweimal.
    Â«Willkommen zur Zen-Meditation», sagte sie. «Setzt euch aufrecht hin, legt die rechte Hand in den Schoß, die linke darüber. Die Knöchel der Mittelfinger liegen übereinander. Die Daumen berühren sich leicht. Richtet den Blick in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel zum Boden. Bewegt euch jetzt nicht mehr – vertraut mir, es ist einfacher, sich gar nicht zu bewegen …», hier lachte sie auf,

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