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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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ließ sich vom Protest ihrer Knie, Hüften und Schultern nicht mehr so einfach beeindrucken. «Stellt euch nicht so an», wies sie ihre Gelenke zurecht. «Es geht vorüber. Alles geht vorüber.» Sieben. Acht. Neun. Zehn.
    Als sie nach der dritten Runde aufstehen wollte, hob ein monotones Murmeln an. Erschreckt schaute sie sich um. Plötzlich hielt jeder ein Büchlein in der Hand. Erika merkte, dass auch unter ihrer Matte eins lag und zog es hervor. Doch ohne Lesebrille konnte sie nicht erkennen, was darauf stand. So hörte sie einfach zu.
    Â«Weit ist das Kleid der Befreiung», murmelten die anderen. «Ein formloses Feld des Wohlergehens …»
    Erikas Augen begannen zu brennen, und bevor sie wusste, was geschah, tropften ihre Tränen auf das Papier. Das Geräusch, das sie beim Platzen machten, erfüllte den ganzen Raum. Mit jeder Träne löste sich etwas auf. Erika dachte, sie habe noch nie etwas Tröstlicheres gehört: Unter ein weites Kleid passte auch sie. In einem formlosen Feld war Platz für sie.
    Plötzlich erinnerte sich Erika: Das hatte sie schon einmal gefühlt. Genau das. Dieses absolute Aufgehobensein. Es war auf einer Bergwanderung gewesen, vor drei oder vier Jahren. Max hatte eine Gruppe seiner Mitarbeiter zu einem Wochenende in einem Wellness-Hotel in den Bündner Bergen eingeladen. Den «anderen» Bergen, hatten die Glarner gespöttelt. Erika hatte durchgesetzt, dass Max sie mitnahm. Vielleicht hatte sie sich erhofft, dass sie sich in dem Hotelzimmer wieder näherkämen. Vielleicht wollte sie auch nur ein paar Tage in einer anderen Umgebung verbringen.
    Die Wanderung am zweiten Morgen, der Anblick seltener Alpenblumen sollten die Designer für die nächste Kollektion inspirieren, die ganz im Zeichen der Swissness stand. Ein Führer war engagiert worden, ein Sammler von Heilpflanzen, der wusste, wo die seltensten Blüten zu finden waren. Er hatte morgens um halb sechs vor dem Hotel auf sie gewartet, ein hagerer, alter Mann, der schwere, lederne Wanderschuhe trug, ohne Socken, und eine abgeschnittene Hose, die am Bund mit einem Strick zusammengehalten wurde. An diesem Strick hingen Dutzende bunter Plastikbeutel.
    Wortlos führte er die Gruppe aus dem Dorf hinaus und vom Weg ab. Die Sonne kletterte über die Bergkante und blieb im feuchten Gras hängen. Ab und zu blieb Giovanni stehen, zeigte auf etwas, meist eine unscheinbare kleine Pflanze, die die anderen pflichtbewusst mit ihren Handys fotografierten. Erika blieb etwas zurück. Sie dachte darüber nach, was sie am Abend zum Essen tragen wollte. Und ob Max diese Nacht etwas früher ins Zimmer kommen würde. Ob eine Chance bestand. Erika wusste nicht, warum sie sich immer noch so bemühte. Es hatte etwas Trotziges. Wäre es nicht einfacher, ihn in Ruhe zu lassen?
    Plötzlich stand sie vor einem Bach. Von weitem hatte er schmal und harmlos ausgesehen. Jetzt, als sie vor ihm stand, schien er reißend, unüberwindbar. Erika mochte die Berge nicht, obwohl sie in ihrem Schatten aufgewachsen war. Sie zögerte. Sie streckte einen Fuß aus. Der glatte, flache Stein wurde vom Wasser verschlungen. Zog sich zurück. Sie verharrte so, den Fuß in der Luft. Das Wasser schäumte. Es überschwemmte den wackeligen Weg, der sich für die anderen gebildet hatte, Stein vor Stein. Sie schaute zum andern Ufer hinüber. Es schien weiter weg als noch vor einer Minute. Bald unerreichbar.
    Max hatte sich von der Gruppe abgesetzt. Er telefonierte mit abgewandtem Rücken. Mit wem telefonierte er?, fragte sich Erika. Es waren doch alle hier. Marga, seine unersetzliche Assistentin stand ein Stück weiter weg und beobachtete ihn auch. Jetzt war Erika die Letzte, die noch auf der anderen Seite des Baches verharrte.
    Giovanni drehte sich zu ihr um. Der Rest der Gruppe drehte sich zu ihr um. Erika stand wie ein Wasservogel auf einem Bein, den Fuß in der Luft, unfähig, sich zu rühren. Sie konnte den Stein nicht mehr sehen, auf den sie den Fuß hatte setzen wollen. Max machte rudernde Bewegungen mit den Armen. Jemand rief etwas. Erika wollte sterben. Erika wollte weinen. Doch Giovanni nahm seinen Stock auf und kam zu ihr zurück. Er ging durchs Wasser, als sei es gar nicht da. Er kümmerte sich nicht um Steine und um trockene Stellen, er stapfte einfach durch den Bach, ließ das kalte Wasser seine Schuhe füllen. Als er vor ihr stand, drehte er sich um.

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