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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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rauh, ein wenig dreckig. «Das Knie tut weh, die Schulter, die Nase juckt … das geht alles vorbei. Genau wie eure Gedanken, die kommen und gehen auch wieder. Zählt eure Atemzüge, immer beim Ausatmen, eins bis zehn. Wenn ihr nicht mehr wisst, wo ihr seid, fangt ihr einfach wieder bei eins an. Das ist alles.»
    Dann schlug der Gong noch einmal, und dann war nichts.
    Â 
    Eins. Zwei. Drei … Erikas Nase begann zu jucken. Sie wollte ihre Hand heben, sich kratzen. Nein. Nicht bewegen. Das Jucken wurde unerträglich. Erika wollte aus der Haut fahren. Eins. Zwei. Drei. Vier … Erika schluckte. Das Schlucken dröhnte durch den Raum, für alle hörbar. Wer hätte gedacht, dass sie so laut schluckte? Schon musste sie wieder … Eins. Zwei … Ihre Knie taten weh. Warum hatte sie auch mit dem vollen Lotossitz angeben müssen? Jetzt konnte sie ihre Stellung nicht mehr verändern. Das hatte sie nun davon. Erika konnte fühlen, wie sich ihre Gelenke versteiften, wie sich Krampfadern in ihren überkreuzten Beinen bildeten. Das konnte doch nicht gesund sein. Konnte nicht. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Neun. Zehn. Eins. Zwei. Drei. Vier … Ihr Magen knurrte. Wie lange saß sie nun schon hier? Wie lange dauerte diese Meditation überhaupt? Warum hatte sie nicht vorher gefragt, wie lange es dauern würde? Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Neun. Zehn. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs.
    Â 
    Der Gong schlug, einmal, zweimal. Erika öffnete die Augen. Sie schaute nach links, der junge Mann hob die Hände vor die Brust und verneigte sich. Sie verneigte sich auch. Dann streckten alle ihre Beine aus, massierten ihre eingeschlafenen Füße.
    Â«Und jetzt?», wollte sie fragen. «War es das, sind wir jetzt fertig?» Doch sie hielt den Mund. Sie tat genau das, was man ihr gesagt hatte: Sie schaute, was die anderen machten, dann machte sie es ihnen nach. Es war ein seltsames Gefühl, von einem Moment bis zum nächsten so im Leeren zu hängen. Im absoluten Nichts. Nicht unangenehm. Nur seltsam. Ungewohnt. Erika dachte an ihre geliebten To-do-Listen, an den sorgfältig geführten mehrfarbigen Kalender auf ihrem Computer. Ohne ihre Listen, ohne ihre Links, ohne Zugriff auf Meldungen und Bilder und Filme, ohne die Möglichkeit, etwas zu lesen, zu kaufen, zu bestellen war ihr Leben komplett leer. Manchmal vermisste sie ihre Geräte mit einer Heftigkeit, die sie körperlich schmerzte.
    Erika bewegte ihre Zehen auf und ab und spürte, wie Leben in ihre Beine zurückkehrte. Nach einer Weile standen alle auf, die einen umständlicher, die anderen gelenkiger. Wieder wurden die Kissen geschüttelt und gerichtet. Dann schauten alle zum Altar in der Mitte des Raums, der Gong schlug, diesmal wusste Erika schon, was das bedeutete. Sie verbeugte sich.
    Â« Kinhin , Gehmeditation», sagte die Sensei an. «Macht mit der linken Hand eine lockere Faust vor dem Bauchnabel, legt die rechte darum. Zählt jetzt nicht mehr eure Atemzüge, sondern konzentriert euch ganz auf eure Fußsohlen auf dem Boden. Wenn jemand kurz hinausmuss, ist jetzt der Moment.» Sie schlug zwei Holzstöcke zusammen, und die Gruppe setzte sich in Bewegung, im Zeitlupentempo schlichen sie durch den Raum. Erika führte jeden einzelnen Schritt mit übertriebener Betonung aus. Plötzlich erinnerte sie sich an den Schauspielunterricht, den sie in New York genommen hatte, wie jedes Model, das auf sich hielt. Damals hatten sie genauso langsam und übertrieben alltägliche Handlungen ausgeführt, die Tasse zum Mund gehoben, die Haare gekämmt. Sie sollten sich bewusst werden, was sie taten. Die Übung hatte ihr damals Spaß gemacht. Sie dehnte und streckte ihre Zehen und Waden und spürte den warmen, glatten Parkettboden unter ihren Fußsohlen entlangrollen, vom Ballen bis zur Ferse. Was tat sie hier? Sie setzte einen Fuß vor den anderen. Jetzt verließ jemand den Raum, und einen Augenblick lang wünschte sie, sie wäre zuerst gewesen. Jetzt könnte sie sich hinausschleichen. Sie müsste nicht mehr zurückkommen. Doch etwas hielt sie zurück, Erika wusste nicht, was es war. Der nächste unendlich langsame Schritt lag vor ihr.
    Die zweite Runde verging schneller als die erste. Manchmal ertappte Erika sich dabei, dass sie bis achtzehn gezählt hatte. Sie hatte sich von Anfang an bequemer hingesetzt und

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