Das wahre Leben
den Kopf. Wie oft konnte sie «du spinnst» sagen?
Die Kellnerin wählte diesen Moment, um den Fisch des Tages aufzutragen. Er lag grau auf dem Teller, ein milchiges Auge schaute vorwurfsvoll. Es war ein schlechter Tag für Fisch, dachte Nevada.
«Und ich ⦠wohne bei meiner Mutter. In der WG kamen sie mit meiner Krankheit nicht klar. Und ich verdiene kein ⦠Geld. Im Moment. Aber das kann sich alles sehr schnell ändern. Entweder ich ⦠sterbe, oder ich werde geheilt.»
«Gut für dich», sagte Nevada. Sie schob den Fisch von sich, der sie mit toten Augen vorwurfsvoll ansah. «Bei mir gibt es kein Oder. Ich werde nicht geheilt. Ich sterbe nur.»
«Nevada, wir ⦠sterben alle.»
«Nein! Und das sagst du mir jetzt?»
Plötzlich mussten sie beide lachen.
«Ich möchte ⦠dich küssen», sagte Dante. «Aber ich traue mich nicht.»
«Warum traust du dich nicht?»
«Hier, im Restaurant.»
«Im Restaurant?» Nevada schaute sich um, als wüsste sie nicht, wo sie sich befand. Das Restaurant verschwand um sie herum. Die Paare an den Tischen lösten sich auf, verblassten. Ihre Stimmen wurden leiser, vermischten sich zu einem sanften Murmeln im Hintergrund. Der Tisch, an dem sie saÃen, war viel zu groÃ. Wie ein sperriges Hindernis stand er zwischen ihnen. Nevada legte beide Hände an ihre Räder und stieà sich ab. Der Stuhl schoss um den Tisch herum. Sie streckte beide Hände nach Dante aus und verlor im selben Moment den Halt. Dante fing sie auf und zog sie an sich, doch der Stuhl fuhr einfach weiter. Sie hielt sich an Dante fest und fiel aus dem Stuhl, sie riss Dante mit sich, er fiel auf sie und da lagen sie auf dem Boden unter dem Tisch und küssten sich endlich.
Nevadas Stuhl knallte gegen den nächsten Tisch, ein Glas fiel zu Boden, jemand lachte laut auf, und irgendwann verschwand das ganze Lokal.
Erika
1.
Um fünf Uhr dreiÃig war es schon beinahe hell. Erika zog sich an. Um sechs Uhr begann die erste Meditationsstunde. Seit Erika den Flyer von der Pinnwand im Ãrztehaus genommen hatte, sah sie überall Hinweise und Zeichen. Ein Werbeplakat an der Busstation zeigte einen buddhistischen Mönch in orangeroter Robe mit modernen Kopfhörern. Ein Zeitungsaushang am Kiosk versprach: «Meditation macht Schüler schlauer!»Jeden Morgen hatte sie sich vorgenommen, hinzugehen, es auszuprobieren, jeden Morgen hatte sie die Stunde verstreichen lassen. Früher oder später musste sie anfangen, ihren Tag einzuteilen. Warum nicht heute.
Unterdessen fand sie sich in der Siedlung leicht zurecht. Sie fand den Wohnblock auf Anhieb. Im Eingang stand ein Passantenfänger, auf dem die Meditationszeiten angegeben waren. Das Schild war neutral, keine östlichen Symbole oder Schriftzeichen. «4. Stock», stand da. Erika nahm den Lift. Sie folgte dem Flur, an dessen Ende eine Tür offen stand. Sie erwartete den Geruch von Räucherstäbchen, Gongklänge, Glockenspiel. Doch an der Tür stand nur: «Zendo Zürich Nord». Vorsichtig ging sie hindurch. Im Flur standen fünf oder sechs Paar Schuhe. Unsicher schaute Erika sich um. Sollte sie ihre Schuhe auch ausziehen? Was sollte sie tun?
«Huhu!», rief sie und erschrak, als sie ihre Stimme hörte. Sie kicherte erschrocken und hielt sich eine Hand vor den Mund. Niemand hatte sie gesehen. Sie konnte immer noch umkehren. Plötzlich stand eine kleine Person in einer senfgelben Robe vor ihr. Es könnte eine Frau sein oder ein alter Mann. Alte Männer sahen manchmal aus wie Frauen. Doch die Stimme, die sie jetzt leise willkommen hieÃ, gehörte einer Frau. Einer Frau, die viel Zeit in verrauchten Bars verbracht hatte, die schmutzige Witze kannte und traurige Lieder sang. Einer Frau mit millimeterkurz geschorenem Haar. Eine Nonne?
«Danke», antwortete Erika leise, fast flüsternd, atemlos. «Ich heiÃe Erika, ich bin zum ersten Mal hier, ich bin erst vor kurzem hier eingezogen, und ich weià eigentlich gar nicht genau, was ich hier suche, aber ich habe Ihren Prospekt mitgenommen im Ãrztehaus, und ich weià nicht, seither sehe ich überall Zeichen, dass ich es versuchen sollte, das ist vermutlich nichts Besonderes, wir Frauen in einem gewissen Alter, wir suchen doch alle den Sinn des Lebens â¦Â» Eines nach dem anderen wurden ihre Worte von der Stille verschluckt. Verlegen kichernd verstummte sie. Die alte
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