Das wahre Leben
Dante schien die Blicke nicht zu bemerken. Er räusperte sich und sagte: «Ich liebe dich, Nevada.»
«Mich?» Sie schaute in Dantes blaue Augen und wünschte sich, von ihnen verschluckt zu werden. Sie sah seine Lippen, voll, etwas spröde, bleich, und wünschte sich, sie würden näher kommen. Sie wünschte sich, sie könnte ihm glauben. «Du kennst mich doch gar nicht.»
«Doch», sagte Dante. Er saà ihr gegenüber, seine Hände lagen vor ihr auf dem Tisch, bittend nach ihr ausgestreckt, die Handflächen nach oben, offen. Er schaute ihr direkt in die Augen, in sie hinein. Er bewegte sich kaum, manchmal zuckte seine Schulter nach oben. Er lächelte nicht, er lenkte nicht ab, er verzog nicht das Gesicht. Er saà nur da. Ohne Verstellung. Ohne Plan. Er war ernst und ruhig.
«Genau geâ¦nommen ⦠also gut», gab er zu. «Ich kenne dich nicht. Nicht wirklich. Ich kenne dich weniger als eine ⦠Stunde lang. Ãber zwei Wochen, das ist nicht viel. Trotzdem ⦠Im Moment, als du ⦠zur Tür reinkamst, hatte ich dieses Gefühl: Die kenne ich. Dann hast ⦠du mich angeschaut. Und dann war es klar: Du bist die, auf die ich gewartet ⦠habe. Du bist die, die ich liebe. Du bist meine Frau.»
«Du spinnst doch», rutschte es Nevada heraus. Im nächsten Moment tat es ihr leid.
Doch Dante war nicht beleidigt. «Na ja, ich hab ⦠einen Hirntumor», sagte er. «Es ist schon möglich, dass der nicht nur auf mein ⦠Sprachzentrum drückt. Er erinnert mich daran, dass jeden Tag alles ⦠anders werden kann. Vielleicht ist es das. Ich kann einfach nicht mehr ⦠um die Dinge herumreden. Es ermüdet mich. Es verwirrt mich ⦠Und nur damit ⦠du es weiÃt», jetzt lächelte er doch, «nur damit du es weiÃt, ich kann auch nicht zuhören, wenn jemand im ⦠Kreis herumredet. Es ist, als hätte ich die Fähigkeit verloren. Wie ⦠eine Fremdsprache, die ich mal beherrscht habe und die der Tumor aus meinem ⦠Hirn gefressen hat.»
«Ich kann auch keinen Smalltalk», sagte Nevada. Jetzt hatte sie das Gefühl, sie müsse sich verteidigen. Sie ärgerte sich darüber. Was bildete der junge Mann sich ein, sich hier als Heiliger aufzuspielen? «Ich konnte es noch nie. Darum rede ich nicht viel. Nicht mal, wenn ich unterrichte. Ich sage auch lieber nichts als das Falsche. Und übrigens habe ich auch eine tägliche Erinnerung daran, dass alles anders wird â schlechter, in meinem Fall.»
«Nevada, ich ⦠wollte dich nicht verletzen. So hab ich es nicht gemeint.»
«Ich dachte, du bist Schriftsteller? Solltest du dann nicht mit der Sprache umgehen können?» Der Tumor, fiel ihr wieder ein. Die beste aller Entschuldigungen. Für alles.
Jetzt schwiegen sie beide. Die meisten Tische waren von Paaren besetzt. An einem Tisch in der Mitte saÃen vier junge Frauen, die sehr laut lachten. Ihre Blicke schossen wie Pfeile durch den Raum, prallten an den Paaren ab, streiften immer wieder Dante. Ein schönes, gutgekleidetes Paar saà schweigend da. Beide mit ihren Handys beschäftigt. Er fotografierte das Essen auf seinem Teller, sie tippte Nachrichten ein. Das junge Paar am Nebentisch lernte sich offenbar gerade erst kennen.
Dante zog seine Hände zurück. Widerwillig krochen sie zurück auf seine Tischseite, und versteckten sich in seinen Ãrmeln. Plötzlich hatte Nevada das Bedürfnis, nach ihnen zu greifen, sie zurückzuholen. Seine Hände waren zu groà für seine dünnen Arme, sie wirkten fehl am Platz, wie die Hände eines Jugendlichen.
«Wie alt bist du überhaupt?», fragte Nevada.
Dante seufzte. «Siebenundzwanzig», sagte er. «Ich werde diesen ⦠Herbst siebenundzwanzig.»
«Also bist du sechsundzwanzig.»
«Zwölf ⦠Jahre jünger als du.»
«Vielen Dank, das hätte ich mir auch selber ausrechnen können.»
Dante zuckte mit den Schultern. «AchtunddreiÃig ⦠ist nicht alt.»
«Nein. Es ist der Rollstuhl, der mich älter macht.»
Dante lachte.
«Ich meine es ernst. Ich bin älter als du, ich bin unheilbar krank, ich kann keine Kinder bekommen â¦Â»
«Ich weià ⦠gar nicht, ob ich überhaupt Kinder will», unterbrach er sie erschrocken. «Aber ich möchte ⦠dich heiraten. Das schon! Das unbedingt.»
Nevada schüttelte
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