Das wahre Leben
Er krümmte den Rücken. Streckte seine Hände nach hinten, nach ihr aus. Erika verstand nicht. Hilfesuchend schaute sie zu Max hinüber, doch der hatte sich schon wieder abgewandt, mit dem Handy am Ohr. Zwei Männer waren schon vorausgegangen, die anderen jedoch blieben stehen und schauten interessiert zu ihnen herüber.
«Los!», rief Marga ihr aufmunternd zu. «Los, los!»
Giovanni wartete nur. Worauf? Dass sie auf seinen mageren alten Rücken kletterte? Am anderen Ufer entfernte sich Max von ihr. Marga folgte ihm. Sie sah, wie sie ihn einholte, eine Hand auf seine Schulter legte, sein Telefongespräch unterbrach. Max schaute wieder zu Erika herüber. Margas Hand lag immer noch auf seiner Schulter. Da lieà Erika sich nach vorne fallen, Giovannis Hände fingen sie auf, zogen sie auf seinen Rücken, und dann trug er sie huckepack durch den reiÃenden Bach. Sorgfältig setzte er einen Fuà vor den anderen, bis er das andere Ufer erreicht hatte. Er drehte sich um und lieà Erika von seinem Rücken gleiten, auf den sicheren Uferboden. Dann stapfte er an ihr vorbei, als sei nichts gewesen.
Erika schaute ihm nach. Sie hatte Tränen in den Augen. Es waren dieselben Tränen, die jetzt auf das Büchlein in ihrer Hand tropften. Tränen der Erleichterung. Der Dankbarkeit.
«Schämst du dich nicht», hatte Max später zu ihr gesagt. «Lady Erika braucht einen Träger oder was?»
Â
2.
«Mal mir ein Flugzeug!», verlangte der Knirps, der vor ihrem Tisch stand. Erika stutzte. War das nicht aus einem Kinderbuch? Sie konnte sich nicht erinnern. Die Kinder bildeten eine Traube vor ihrem Tisch.
«Ein Haus!», verlangten sie.
«Einen AuÃerirdischen!»
«Einen Bösen!»
Erika hatte ihre Schulhefte und Filzstifte vor sich ausgebreitet. Seite für Seite riss sie die ausgeführten Aufträge aus und reichte sie den Knirpsen, die sich meist artig bedankten.
Erika mochte es, wie die Filzstiftfarbe die dünnen Seiten durchdrang, wie sich ein Bild auf das nächste legte, wie alles miteinander verschwamm. Sie zeichnete alles um sich herum. Als würde sie es sonst vergessen. Seit drei Wochen war sie hier. Noch dachten ihre alten Freunde, sie sei in den Ferien. Oder zur Kur. Im Entzug oder in der Schönheitsklinik. Noch fragte sich niemand, warum sie nicht anrief, nicht online war. Noch könnte sie zurückkehren. In ihr altes Leben.
Sie könnte, dachte Erika, die Wohnung in der Siedlung ja behalten. Als Rückzugsmöglichkeit. Andere hatten ein Ferienhaus in den Bergen. Sie hätte die Anonymität der Vorstadt. Doch Erika wollte nicht in ihr altes Leben zurück. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, wurde ihre Brust eng. Wie wenn eine Hand ihr Herz zusammenpresste. Frauen, das hatte sie irgendwo gelesen, Frauen hatten heutzutage häufiger Herzinfarkte als Männer. Es hatte mit dem zunehmenden Stress zu tun. Damit waren Karrierefrauen gemeint. Nicht Frauen wie sie. Frauen, die keinen Beruf ausübten. Frauen, die alles hatten, und nichts davon verdient. Das wusste Erika. Niemand konnte den Druck ahnen, dem Frauen wie sie ausgesetzt waren. Niemand wusste, wie viel Kraft es kostete, diese unverdienten Leben aufrechtzuerhalten. Die Risse zu kitten, die Farben aufzufrischen, die zentnerschwere Kulisse realistisch wirken zu lassen. Niemand konnte auch nur ahnen, wie gnadenlos so ein unverdientes Leben zermürbte.
Sie wollte nicht zurück. Sie konnte nicht. Sie würde hierbleiben. Sie würde etwas finden, das sie tun konnte. Sie würde etwas Sinnvolles tun, sie würde etwas beitragen. Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, sie hätte kein Geld. Wenn sie arbeiten müsste, würde sie das tun. Die Pinnwand vor der Kaffeetheke war voller Beschäftigungsangebote. Es gab Einsatzprogramme für Arbeitslose, für Drogensüchtige, für Eingewanderte und Ausgesteuerte. Erika verstand nicht die Hälfte der politisch korrekten Begriffe, die die nackte Wahrheit weniger wiedergaben als hübsch verkleideten. Aber so viel verstand sie: Es gab kein Einsatzprogramm für solche wie sie. Nicht hier und auch nicht woanders.
Gedankenlos malte Erika einen Flyerentwurf in ihr Heft: «Beschäftigungstherapie für ausrangierte Zürichbergschnepfen.» Sie zeichnete den Blick von ihrer Dachterrasse auf die Stadt und auf den See, die Silhouetten der Kirchen, die Hügelkette am anderen
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