Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
Vom Netzwerk:
allerdings erst um acht Uhr früh. Sorgfältig setzte Erika zwei Felder an und schraffierte sie grün:
    Â«Sechs bis acht Uhr: Meditation.» Sie wusste nicht genau, warum ihr so klar war, dass sie von nun an jeden Tag ins Zendo gehen würde. Es war einfach so. Wie sie wusste, dass sie jeden Tag die Zähne putzen würde.
    Â«Acht bis neun Uhr: Café Migräne.»
    Sie ließ den Stift sinken. Mehr war da nicht. Noch nicht.
    Anna kam herein. Und Erika merkte, dass das nicht stimmte, da war mehr: Da war Anna, die sie fast jeden Tag zum Kaffee traf. Da war Meri, die Erika beim Namen nannte und wusste, was sie gerne trank. Da waren die kleinen Kinder, die sich bei ihr Zeichnungen bestellten. Da war Doktor Leibundgut – Marie –, die sie im Vorübergehen freundlich grüßte. Sie alle wussten nichts über Erika. Sie redeten mit ihr, tranken Kaffee mit ihr, ließen sich Zeichnungen anfertigen, weil sie sie mochten. Sie. Erika. In ihren schlechtsitzenden Jeans, mit ihren nachlässigen Umgangsformen.
    Erika zu sein war genug.
    Â«Verstehst du etwas von Teenagern?», fragte Anna jetzt.
    Â«Ich? Wieso?» Hatte sie Anna erzählt, dass sie eine Tochter hatte?
    Â«Es ist meine Schwester. Sie treibt mich zum Wahnsinn. Weißt du, das Mädchen ist klug. Die hat viel mehr hier drin als ich.» Anna klopfte an ihren Kopf und horchte einen Augenblick in ihn hinein. «Aus ihr könnte etwas werden. Sie könnte studieren, Geld verdienen. Hier rauskommen. Aber sie macht alles kaputt.» Anna war dreiundzwanzig Jahre alt, ihre Schwester Rebecca siebzehn. Die beiden jungen Frauen lebten allein. Ihre Mutter war krank, hatte Anna ihr einmal erzählt. Im Welschland, ein andermal. Rebecca, einst eine gute Schülerin, musste nun zum zweiten Mal eine Klasse wiederholen.
    Â«Sie sollte doch ins Gymnasium wechseln! Sie hatte den Notenschnitt schon fast. Aber daraus wird nichts mehr. Jetzt ist sie in diesem Sommerprogramm von der Schule, das ist ihre letzte Chance. Und was macht sie? Sie schwänzt den Nachhilfeunterricht! Wenn sie jetzt rausfliegt, Erika …» Anna ließ den Kopf sinken, bis er beinahe auf der Tischplatte lag.
    Erika streckte ihre Hand aus und streichelte der Jüngeren über den Rücken. Sie erinnerte sich nicht, wann sie zuletzt jemanden berührt hatte.
    Â«Ich geb mir solche Mühe mit ihr», murmelte Anna. «Aber ich weiß einfach nicht mehr weiter. Es ist nie genug, egal was ich tue, es ist nie genug.»
    Â«Ich weiß.» Erika kannte dieses Gefühl. Sie fragte sich, ob Anna ihrer Mutter verziehen hatte. Und ob sie Erika verzeihen würde, wenn sie wüsste, dass auch Erika ihre Tochter verlassen hatte. Vielleicht wusste sie es ja. Erika erinnerte Anna an ihre Mutter, das hatte sie mehr als einmal gesagt. Und doch traf sie sie jeden Tag zum Kaffee. Anna mochte sie.
    Konnte man jemanden wie Erika mögen?
    Â«Kannst du Französisch?», fragte Anna.
    Â«Sogar sehr gut. Ich habe ein paar Jahre in Paris gelebt.»
    Â« Oh là là! Gib mal nicht so an!» Anna lachte wieder. Dann war ihre Pause zu Ende.
    Bevor sie ging, füllte Erika ein weiteres Feld aus:
    Â«Zehn bis zwölf Uhr: Nachhilfe Rebecca.»
    Â 
3.
    An der Wohnungstür klebte immer noch das selbstbemalte Holzschild, das drei unterschiedlich große Paar Schuhe zeigte und darunter die Namen: «Karin, Anna und Rebecca Andrini». Die Farben waren verblasst, das Holz gesprungen, Karin Andrini lebte nicht mehr hier. Das Schild, dachte Erika, das Schild hatten die drei gemeinsam gemalt, als sie hierhergezogen waren, nach der Scheidung. Alles wird gut, sollte dieses Schild heißen. Aber es war nicht gut geworden. Erika wusste nichts über die Mutter der beiden Mädchen, aber sie fühlte sich ihr verbunden. Von einer Rabenmutter zur andern. Sie klingelte. Ein sehr dünnes Mädchen öffnete. Rebecca war dünner, als Erika es in ihren Modeltagen gewesen war. Einen Augenblick lang beneidete sie das Mädchen um diese Magerkeit. Und die Mutter des Mädchens um ihre dünne Tochter.
    Als Suleika vor zwei Jahren noch so dünn war, hatte sie allerdings keine Essstörung gehabt, nur immer noch einen empfindlichen Magen. Damals, bei so vielen Ärzten und Homöopathen, hatte Erika sich sicher gefühlt. Unter der Aufsicht von Fachpersonen konnte sie nichts falsch machen, würde ihrer Tochter nichts passieren. Durch ihre rasende

Weitere Kostenlose Bücher