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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Ufer. Mitten in diese Postkarte setzte sie eine dicke Schnepfe. Schnepfen waren schöne Vögel. Sie zeichnete den runden Bauch, das hellbraune, lichtfleckige Federkleid, ein schiefgelegtes, schlaues Gesicht mit wissenden schwarzen Augen. Eine Sprechblase: «Unterschätzt mich nicht!»
    Dann setzte sie einen Papierkorb unter den Vogel und füllte ihn mit zusammengeknüllten Seiten. Die ganze Stadt schien aus dem Papierkorb zu quellen. Die Schnepfe blickte ungerührt.
    Ihre frühen Modeljahre waren die einzigen Jahre in ihrem ganzen Leben gewesen, in denen sie wusste, dass sie gebraucht wurde. Dass sie etwas beitrug. Was von außen so frivol wirkte, war in Wirklichkeit harte Arbeit. Und Erika hatte immer gewusst, dass ihre Mutter auf sie angewiesen war. Auf ihre Arbeit angewiesen war, auf das Geld, das sie verdiente. Dass das Schicksal ihrer Familie, der Fabrik, des ganzen Tals von ihr abhing. Von ihrem Gesicht. Von ihrer Fähigkeit, ihr Gesicht ins Licht zu halten.
    Dann war ihr Vater gestorben, und Max hatte die Leitung der Fabrik übernommen. Erikas Typ war weniger und weniger gefragt. Vor den Kameras und überhaupt. Während ihrer Schwangerschaft hatte Erika geglaubt, ihre Bestimmung gefunden zu haben. Als Mutter. Sie wollte alles richtig machen. Ihre Tochter würde ihrem Leben Inhalt geben und Sinn. Sie würde alles für sie tun. Doch Suleika hatte sie nicht gelassen.
    Was konnte sie? Sie konnte zeichnen. Sie sprach fließend Englisch und Französisch. Sie konnte vor der Kamera posieren. Sie konnte mit unangenehmen Menschen umgehen. Sie konnte die Augen zumachen, wegschauen, weghören … Sie zögerte, der grüne Filzstift schwebte über dem Papier. Konnte sie das? Konnte sie das noch? Heute Morgen erschien ihr die Welt in klaren, starken Farben. Das hatte sie vor Jahren schon einmal erlebt, als sie nach einem einwöchigen Segeltörn an Land gegangen war. Da hatten sie die Rot- und Gelbtöne angesprungen wie wilde Tiere. Damals hatte sie in der nächsten Hafenkneipe Drinks bestellt, bis der Boden unter ihren Füßen nicht mehr schwankte und die Farben verblassten. Aber heute war es anders. Heute wollte sie sich den Eindrücken stellen. Sie wollte sie aufnehmen, als sei es das erste Mal.
    Jetzt spiel dich mal nicht so auf, schalt sie sich in Gedanken. Einmal meditiert und schon erleuchtet oder wie? Sie kicherte, als sie sah, was ihre Hand gezeichnet hatte: Bécassine , die bretonische Magd. Eine Figur aus einem Kinderbuch. Bécassine hieß Schnepfe. Aber das Mädchen in den klobigen Holzschuhen würde am Zürichberg nicht einmal als Putzfrau engagiert werden. Zu eigenwillig war sie, zu frech.
    Â«PUTZFRAU?» , schrieb Erika in ihr Heft. Warum nicht? Früher hatte sie gerne geputzt. Und irgendetwas musste sie ja tun. Die Siedlung hatte eigene Putzequipen. Auch die würden Erika aufgrund ihrer privilegierten Situation nicht einstellen. Und niemand hier konnte sich eine private Putzfrau leisten. Trotzdem riss sie das Blatt mit der Zeichnung aus ihrem Heft und brachte es zur Theke, um es für die Pinnwand abstempeln zu lassen.
    Â«Und ich nehm gleich noch einen Latte macchiato.»
    Â«Das ist schon der dritte», sagte Meri, die an den meisten Morgen das Café betreute. «Heute bist du aber früh unterwegs.»
    Â«Ich war schon in der Meditation», sagte Erika.
    Â«Oh, wow, das könnte ich nie! Stillsitzen, das ist nichts für mich.»
    Erika schämte sich einen Moment lang, als sei Stillsitzen etwas Unanständiges. Doch das war die Stimme von Max, die sie immer noch hörte. Sie konnte nicht erwarten, dass die einfach so aus ihrem Ohr verschwand. Nach all den Jahren.
    Â«Ich hätte es mir auch nicht zugetraut», antwortete sie ehrlich. «Aber es war … ich weiß auch nicht.»
    Â«Na, lieber du als ich.» Sie warf einen Blick auf Erikas Flyer und stempelte ihn dann ab. «Du bist unglaublich begabt, weißt du das? Du solltest Künstlerin sein oder so was. Zeichenlehrerin vielleicht?»
    Â«Ich hab doch nichts gelernt.»
    Â«Ich auch nicht – und schau mich an!» Meri lachte. Sie schob Erika ihren Kaffee hin. «Willst du was essen? Ich habe frische Börek, selbst gebacken.»
    Erika nahm zwei Teigtaschen. Eine süße und eine salzige. Sie aß sie beide auf, dann öffnete sie ein neues Heft. Auf die Innenseite des Heftdeckels war ein Stundenplan gedruckt. Er begann

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