Das wahre Leben
Gewichtszunahme hatte Suleika sie aus dieser Sicherheit herausgerissen.
«Kommen Sie herein», sagte Rebecca mit ihrer zarten Stimme, die gar nicht aus ihrem Körper zu kommen schien.
«Du kannst Erika zu mir sagen.»
«Okay.»
Das Mädchen führte sie in die Stube, die aussah wie die von Erika. Sie öffnete sich vom kurzen Flur zu einer Fensterfront. Auf der Küchentheke standen Vasen mit künstlichen Blumen. Es gab einen runden Esstisch mit vier Stühlen, zwei Sofas, einen flachen Tisch. Die Möbel waren billig, sie wirkten wie zufällig verteilt, doch alles war sauber. Erika stellte sich vor, dass die Mädchen seit dem Auszug ihrer Mutter nichts verändert hatten. Plötzlich hatte sie Lust, an allen Türen zu klingeln, sich alle Wohnungen anzuschauen. Zu sehen, wie der immer gleiche Grundriss, die immer gleiche Aufteilung der Räume immer anders gefüllt wurde. Sie erinnerte sich an eine Ausstellung, die sie vor langer Zeit gesehen hatte, an Fotos aus genau so einem Wohnblock. Wie fremd war ihr diese Welt damals erschienen, die jetzt ihre war. Man müsste es zeichnen, dachte sie. Nicht fotografieren.
Auf dem Esstisch lagen Rebeccas Schulbücher, daneben, auf einem kleinen Teller, eine ungeöffnete Kekspackung.
«Möchten Sie ⦠möchtest du etwas trinken, einen Kaffee oder so? Ich kann Latte macchiato machen, ich hab in einem Café gearbeitet.»
Erika erkannte das nervöse Bemühen als ihr eigenes. Es erstaunte sie, wie widerstandslos sie diese Anstrengung nachvollzog und wie wenig wohl sie sich als Gast fühlte. Sie hatte heute schon genügend Kaffee getrunken. Trotzdem bedankte sie sich und nahm die Einladung an.
Das Mädchen bewegte sich zwischen den Möbeln wie ein Geist. Als könne sie durch die Gegenstände hindurchtreten. Erika dachte wieder an Suleika, die dauernd irgendwo anstieÃ, als hätte sie noch kein Gefühl für ihren eigenen Umfang. Erika hatte einmal eine Talkshow gesehen, in der die Moderatorin, eine attraktive, schlanke junge Frau, einen Fettanzug getragen hatte. Sie hatte sich bewegt wie Suleika â als gehöre die umfangreiche Hülle nicht zu ihr. Sie trug ihr Gewicht wie einen Mantel, darunter war immer noch der dünne Körper schutzlos der Welt ausgeliefert. Am Ende ihres Experiments war die Moderatorin in Tränen aufgelöst. «Ich bin es nicht gewohnt, so behandelt zu werden», schluchzte sie in die Kamera. Man hatte gesehen, wie sie von Jugendlichen verhöhnt, von Passanten beschimpft, von Verkäufern ignoriert wurde. «Sonst sind die Menschen immer so freundlich zu mir, so zuvorkommend. Ich bin doch immer noch dieselbe!»
Nein, bist du nicht, hatte Erika damals gedacht und den Fernseher ausgeschaltet. In dem Moment, in dem sie den Fettanzug ablegte, würden ihr diese Reaktionen wieder erspart bleiben. So einfach war das. So einfach wäre es auch für Suleika. Warum weigerte ihre Tochter sich, ihr Fett wieder abzulegen?
Rebecca brachte zwei Latte macchiatos in hohen Gläsern. Sie hatte Schokoladepulver in Herzchenform auf den Milchschaum gestreut. Jetzt öffnete sie die Kekspackung und arrangierte den Inhalt sorgfältig auf dem Teller. Sie nahm einen Keks und legte ihn neben ihr Glas. Ein bisschen Schokolade klebte an ihrem Finger, sie steckte ihn nicht in den Mund, sondern wischte ihn sorgfältig an ihrem Hosenbein ab. Erika nahm einen Keks und dann noch einen, sie aà langsam und genau beobachtet von dem Mädchen, dem sie sich näher fühlte als ihrer eigenen Tochter.
Plötzlich dachte sie wieder an dieses letzte Abendessen in ihrem alten Leben.
Max hatte von einem Stammtisch erzählt, den er besuchte, wenn er im Glarnerland war. Von den Leuten, die er dort traf, was sie sagten, wie sie dachten.
«Keiner dort schaut sich deine Dokumentarfilme an», hatte er zum Journalisten Feilchenfeldt gesagt. Er beleidigt nicht nur mich, hatte Erika gedacht. Er beleidigt auch die, von denen er etwas will. Er verachtet auch sie. Gerda, dachte Erika nicht zum ersten Mal, Gerda war eigentlich die Einzige, die grundsätzlich Gnade vor Max fand.
Feilchenfeldt aber war beeindruckt gewesen. Dass Max «solche Leute» kannte. Mit ihnen reden konnte. «Wie Bichsel», hatte er gesagt. «Das wahre Leben spielt sich dort ab, an diesen Tischen, unter diesen Leuten. Nicht hier. Nicht bei uns.»
«Wir bestimmen, was sie sehen, hören, lesen
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