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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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und denken», hatte die Opernhausdirektorin gesagt. «Und wie sie wohnen.» Mit einem Nicken zu Gerda. «Aber wir kennen sie nicht und sie uns auch nicht. Die einfachen Leute …»
    Die einfachen Leute. Hatten sie es einfacher? Einfacher als sie? Und wer waren sie, die schwierigen Leute, die komplizierten?
    Â«Sprecht für euch allein», hatte Max gesagt. «Ich kenne sie, und ich mag sie.»
    Â«Aber sie arbeiten für dich», hatte Erika eingewandt. «Ich weiß nicht, ob das zählt.»
    Einen Augenblick lang phantasierte sie sich an diesen Abend, an ihren Esstisch zurück und stellte sich vor, wie sie sagte: «Na ja, damals, als ich in dieser Mustersiedlung in Seebach lebte …»
    Embedded, dachte sie. Ich lebe inmitten «dieser Leute». Ich lebe mit ihnen, ich lebe wie sie. Und einfach sind sie nicht. Wer ist schon einfach?
    Die ungeschriebenen Codes, an die sich die Eingeweihten hielten, galten nicht nur am Esstisch. Viel wichtiger war das Aussehen. Was man anhatte, wie man sein Haar trug, wie man redete. Welchem Lebensstil man angehörte, wurde mit einem Blick erfasst und gespeichert. Das hatte in den achtziger Jahren begonnen. Die Jugendbewegung hatte die Grenzen der Freiheit und der Individualität sehr eng gezogen. Der Grat, auf dem man sich bewegen durfte, war so schmal wie die blauen Streifen der Seemannspullover, die damals alle trugen.
    In dieser gnadenlosen Strenge hatte Erika sich sofort zu Hause gefühlt. Es passte wunderbar zu dem Gefühl, es nie ganz recht machen zu können, immer um Haaresbreite danebenzuliegen. Und trotzdem hatte manchmal eine leise Stimme in ihr protestiert: «Freie Sicht aufs Mittelmeer? Warum nicht erst mal freie Sicht über die eigene Nase hinaus?» Laut geworden war diese Stimme nie. In der Siedlung gab es bestimmt auch solche Codes. Nur hatte Erika sie noch nicht erkannt. Dafür wusste sie jetzt, dass solche Codes keine Sicherheit gaben. Sie waren einfach alle nur Menschen. Und sie war Erika.
    Â«Hast du einen Fernseher?», fragte Erika jetzt. «Est-ce qu’il y a une télé à l’appartement?»
    So hatte sie selber die Sprache gelernt: Sie war dort hingefahren, wo alle sehr laut und sehr schnell nur Französisch sprachen, also nach Paris. Wenn sie etwas nicht sofort verstand, wurde sie zurechtgewiesen oder ignoriert. Einmal hatte sie in der Bäckerei, in der sie jeden Morgen ihr Croissant holte, geweint. Weil die Bäckersfrau sich geweigert hatte, ihre Bestellung zu verstehen. «Vous voulez quoi?» , hatte sie gefragt. «Je ne vous comprends pas! Un quoi?»
    Â«Croissant!» , hatte Erika unter Tränen gerufen. «Un croissant!»
    Mit der Zeit hatte sie angefangen zu verstehen – ohne sich dessen bewusst zu werden. Sie wusste nicht, ob und wie sie Rebecca helfen konnte. Aber sie würde es versuchen. Als sie das Lehrbuch in die Hand nahm, wurde ihr bewusst, dass sie nie, nicht einmal mit Suleika, Schularbeiten gemacht hatte. Konnte sie ein Mädchen gegen ein anderes tauschen? Ein dickes gegen ein dünnes?
    Rebecca schaltete den Fernseher ein und suchte den Sender der französischen Schweiz. Ein junger Mann mit Igelfrisur erläuterte gerade die Entwicklung des Wetters.
    Â«Hör einfach zu», sagte Erika.
    Schon begann die Werbung. Ein Huhn rannte über ein Feld, und Rebecca klatschte in die Hände. Sie wusste, was als Nächstes kam.

Nevada
    Nevada wachte auf. Sie wusste nicht gleich, wo sie war. Es war hell. Und es war leicht. Keine schwere graue Decke lag auf ihr. Dafür ein Arm. Sie schaute den Arm an. Er war blass und dünn und vollkommen haarlos. Der Arm gehörte zu Dante, und Dante gehörte zu ihr. Das wusste sie, noch bevor sie richtig wach war. Der Arm störte sie nicht. Er weckte die Ameisen unter ihrer Haut nicht, er weckte keine schlafenden Giftschlangen in ihren Muskeln. Sie drehte sich ein wenig zur Seite. Ihr Körper fühlte sich anders an. Durch die Liebe geheilt, dachte sie. Eine wahre Geschichte. Sie schaute an sich hinunter. Auch ihr Körper war weiß geworden und weich. Ihr ganzer Körper hatte sich aufgelöst, ihre Knochen waren mit den Muskeln verschmolzen. Sie rutschte näher an den schlafenden Mann heran. Ihr Körper gehorchte ihr. Er protestierte nicht, sondern suchte sich seinen Platz am anderen Körper, der kühl und knochig war. Wie von selber legten sich ihre Arme und Beine um seine. Ihre Haut

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