Das wahre Leben
nicht, das lass ich mit mir nicht machen. Und es hat funktioniert â er ist erschrocken. Das kann ich dir sagen. Du hast nie kapiert, was für ein Druckmittel du mit der Fabrik in der Hand hast! WeiÃt du, was es für Max bedeuten würde, die Fabrik zu verlieren?»
«Davon kann doch keine Rede sein. Wie kommst du denn auf so etwas. Meine Mutter hat doch für alles vorgesorgt. Max kann gar nichts passieren.»
«Ich sag es dir einfach: Wenn du Max zurückhaben willst, wäre jetzt der Moment. Und das wäre das Mittel, das du einsetzen musst, wenn du es nicht schon getan hast. Die Fabrik. Und das Haus, vergiss das Haus nicht, Max hängt sehr an diesem Haus.»
«An welchem Haus?»
«Deinem Haus. Dem Haus deiner Mutter. WeiÃt du nicht, dass er dort wohnt, wenn er im Glarnerland ist?»
«Doch natürlich, aber â¦Â» ⦠Marga passt doch auf das Haus auf ⦠Marga. Ein Gongschlag in ihrem Kopf. Ein Echo. Margaaaaaaaaa. Maaargaaaaa.
«Wenn es dir ernst ist mit der Trennung, dann gestalte sie so, dass sie glaubwürdig wirkt. Zieh in eine Wohnung, die deinem Leben angemessen ist. In der Suleika auch Platz hat. Stellt eine Vereinbarung auf, was das Haus und die Fabrik betrifft. Mach Nägel mit Köpfen. Sei konsequent. Zieh â s durch.»
Plötzlich wurde Erika kalt. «Warum ist dir das so wichtig?»
Gerda stand auf. «Das soll Max dir selber sagen.» Damit verlieà sie Erika.
Â
2.
Eins. Zwei ⦠Zählen half nicht. Erika spürte die Wut in sich. Der alte Hund war aufgestanden, er riss das Maul weit auf und zeigte seine Zähne. Das war gar kein Hund, das war ein Tiger! Ein schlechtgelaunter Tiger, der sich nicht so leicht bezähmen lieÃ. Er riss sein Maul auf, als wolle er die ganze Welt verschlingen.
Wie konnte es sein, dass die anderen nichts merkten? Warum erschraken sie nicht? Sie atmeten still weiter, die Augen gesenkt. Müssten sie nicht aufspringen und schreiend aus dem Zimmer fliehen, in panischer Angst vor diesem wildgewordenen Tiger?
Und ich dachte, sie sei meine Freundin! Dabei hat sie ⦠hat er ⦠Die ganze Zeit, dachte Erika, die ganze Zeit ⦠und der Tiger brüllte und brüllte.
«Erzählt euch keine Geschichten zu euren Gefühlen», hatte die Sensei einmal gesagt. «Fühlt sie einfach â die Wut, die Trauer, was immer es ist.»
Meine Wut ist ein wilder Tiger, dachte Erika. Kein alter Hund. Meine Wut wird mich auffressen. Mit Haut und Haar verschlingen. Nichts wird von mir übrig bleiben.
War es möglich, dass ⦠all die Jahre ⦠ihre beste Freundin? Gerda? Gerda und Max? Gerda war doch gar nicht arm. Gerda war doch gar nicht tapfer. Und auch nicht dunkelhaarig, rundlich, exotisch. Und Marga? Warum schlug ihr Name wie ein Gong in Erikas Innerem an? Immer wieder hatte Erika sich gefragt, ob Max sie betrog und wenn ja, mit wem. Die Zweifel kamen und gingen. Manchmal war Erika nächtelang mit ihnen wach gelegen, dann hatte sie sie vergessen, bis sie von einem zufällig mitgehörten Satz, einer Trennung in ihrem Bekanntenkreis wieder geweckt wurden. Aber nie hatte sie dabei an Marga gedacht. Marga war Maxâ work wife , wie es die Frauenmagazine nannten. Sie war nicht jung und hübsch wie Johns Praxishilfen. Nicht klein und dunkel wie Maxâ frühere Freundinnen. Aber sie war überall. Sie lebte im Glarnerland. Was, wenn Max all die Nächte gar nicht in der Chauffeurwohnung verbracht hatte, sondern in der kleinen Wohnung von Marga?
Leute leben so! Ja. Aber wollte Max so leben?
«Der betrügt dich nicht», hatte Mona immer gesagt. «Er ist nicht der Typ dafür.» Mona musste es ja wissen, dachte Erika gehässig. Aber was war es dann? Vielleicht das Alter? Max war unterdessen zweiundsechzig. Zwölf Jahre älter als sie. Er hatte das Interesse an ihr schon viel früher verloren. Vielleicht war es gar nie da gewesen. Aber dass er mit niemandem schlief, konnte Erika sich auch nicht vorstellen. Er musste eine andere haben. Sie hatte ihn danach gefragt, manchmal auch beschuldigt. Hatte Bilder von tapferen Frauen studiert, die am Webstuhl saÃen oder Stoffe aus Farbkesseln zogen, die mit seelenvollen Blicken für die Stofffabrik warben, mit weiÃen Zähnen und fester, dunkler Haut.
«Ist es die? Hast du mit der? Sag es mir, sag es mir, sag es mir doch einfach â¦Â»
«Ist dir das nicht peinlich?», fragte er
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