Das wahre Leben
ihr noch peinlich, wie schwer ihr Körper war, zu schwer für seine dünnen Arme. Doch wie konnte ihr ein Körper peinlich sein, den er so offensichtlich begehrte? An einem Körper, der Dante glücklich machte, konnte nichts verkehrt sein. Auch wenn er schwach war. Dante liebte ihr weiches Fleisch, wie sie seinen dünnen, geschundenen, von Narben überzogenen Körper liebte. Dantes Narben gehörten zu ihm wie sein Tumor, wie ihre entzündeten Nervenzellen zu ihr gehörten, ihre zuckenden Muskeln. Sie waren beide versehrt und gleichzeitig perfekt. Weil sie zusammen waren.
Wenn Dante von der Meditation zurückkam, brachte er süÃe Brötchen aus dem Laden mit. Manchmal hatte er auch schon mit seiner Mutter Kaffee getrunken und sie zur Busstation begleitet. Nevada roch es an seinem Atem. Dante sprach nie über seine Mutter, er richtete Nevada keine GrüÃe aus, und sie selber fragte nie nach Annabelle. Sie lebten an entgegengesetzten Enden der Siedlung und mussten einander nicht begegnen. Nur Dante ging hin und her, von einer zur anderen. Er brachte Kleider von da nach dort, Essen von dort nach da. Einmal hatte Nevada ein Unterhemd in seine Wäsche geschmuggelt, die Dante seiner Mutter zum Waschen gab. Als er die gebügelten Sachen zurückbrachte, war das Unterhemd nicht dabei. Nevada fragte nicht danach. Vermutlich hatte Annabelle es verbrannt. Dafür verspeiste sie die Pasta, die Annabelle für ihren Sohn gekocht hatte.
Sie aÃen die Brötchen, dann machte sich Nevada für ihre Yogastunde bereit. Sie war langsam geworden. Und Dante hielt sie auf mit seinen Küssen. Manchmal begleitete er sie. Manchmal blieb er am Computer sitzen. Er schrieb wieder. Sein erstes Buch war noch nicht erschienen, doch er arbeitete schon an einer Fortsetzung. In der Meditationsgruppe hatte er eine Illustratorin kennengelernt, die er für gut hielt. Sie trafen sich regelmäÃig im Café Migräne und stellten einzelne Szenen aus seinem Roman zu Comicstreifen zusammen. Diese sollten in der Sonntagszeitung abgedruckt werden.
Nevada rollte durch die Siedlung. Sie spürte, wie die Kühlweste in ihrem Rücken weich wurde, wie sich auf ihrer Stirn schon wieder SchweiÃtropfen bildeten. Sie musste in der Mitte des Weges fahren, wo der Boden glatt war. Da gab es keinen Schatten.
Sie dachte an Tugba, die mit enganliegendem Kopftuch zum Yoga kam und einen dunklen Stoffmantel über ihrer Kleidung trug. Manchmal dampfte das Mädchen regelrecht. Nevada legte vorsichtig die flache Hand auf ihren Rücken und versuchte, durch die Stoffschichten hindurch ihren Atem zu spüren. Sie wusste, dass diese Schichten zu ihrem Schutz gedacht waren. Dann dachte Nevada an das neue Mädchen. Die dicke Suleika, die immer auf den nächsten Schlag zu warten schien. Auch sie hüllte sich in Schichten. Doch sie schien ihnen nicht zu trauen. Ihr Kopf versank fast zwischen ihren Schultern, wie der einer Schildkröte in ihrem Panzer. Nevada fragte sich, wie man so dick werden konnte. Man musste sich anstrengen, um so dick zu werden. Nevada vermutete, dass Suleika ebenso besessen war von ihrem Körper wie die magersüchtige Rebecca.
Sie legte ihre Hand auf Suleikas Rücken, zwischen die Schulterblätter. «Atme gegen meine Hand», sagte sie. «Fülle deinen ganzen Oberkörper mit deinem Atem. Schieb meine Hand mit deinem Atem weg.» Unter ihrer Hand rührte sich nichts. Suleikas Körper, so weich er wirkte, war von oben bis unten einbetoniert.
Meine Kriegerinnen, dachte sie. Jede führt ihren eigenen Kampf. Jede auf ihre Art, und jede ganz für sich allein. Keins dieser Mädchen konnte es sich leisten, ihre Rüstung abzulegen, ihre Waffen zu senken. Vielleicht, dachte Nevada, vielleicht musste sie die Kriegerstellung bis zum bitteren Ende führen. Sie würde die Mädchen so lange durch die verschiedensten Virabhadrasana- Variationen führen, dass ihnen am Ende gar nichts anderes übrigblieb, als sich zu ergeben. Sich hinzulegen, zu entspannen.
«Noch einmal», sagte Nevada. «Einatmen: ein-, zwei, drei â und ausatmen: aus-, zwei, drei.»
Sie fuhr auf dem Rollstuhl zwischen den Yogamatten hindurch, drückte da ein Knie tiefer in die Beuge, zog hier eine Hand höher. Nevada dachte an ihre erste Stunde mit diesen Mädchen. Sie hatte nicht gewagt, sie anzufassen. Drei Wochen später hatte das tägliche Ãben sie einander
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