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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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nahegebracht. Der Saal war überhitzt, Schweißgeruch hing in der Luft.
    Â«Shit, Sie! Die Fette fällt um!»
    Suleika krachte aus der Stellung, fiel zu Boden, zuckte, mit Schaum vor dem Mund. Nevada starrte. Was hatte sie getan?
    Â«Fuck, Frau, tun Sie was!»

Erika
1.
    Â«Erika, komm! Komm sofort!» Ein schmaler Schatten fiel auf ihr Skizzenheft. Erika schaute auf. Rebecca stand vor ihr. Sie schlotterte in ihrem plüschigen Trainingsanzug, der viel zu dick war für dieses Wetter.
    Â«Erika, komm schnell, Suleika hat sich weh getan!»
    Â«Weh getan? Wie – weh getan?» Erika stand ungeschickt auf, ihre Beine waren eingeschlafen, sie schüttelte sie. Einen Moment stand sie verwirrt vor dem jungen Mädchen, das hilflos weinte.
    Â«Reiß dich zusammen», murmelte Erika. «Reiß dich zusammen.» Sie war die Erwachsene. Sie war die Mutter. Sie musste doch wissen, was jetzt zu tun war. Hinter ihr stand die Tür zu ihrer Wohnung offen. Sie war barfuß. Schuhe, Tasche, Schlüssel.
    Â«Schnell», jammerte Rebecca. «Schnell!»
    Â«Warte hier», sagte Erika. Sie ging in die Wohnung, schloss die Glastür ab. Dann ging sie ins Bad und putzte sich die Zähne. Sie schaute in den Spiegel. Sie erkannte sich nicht. Ihre Augen waren zu groß, ihr Gesicht zu klein. Die Haare zurückgebunden. Sie sah aus, als wartete sie auf ihr Urteil.
    Automatisch griff sie nach der Flasche mit der Linsenflüssigkeit, dann erinnerte sie sich, dass sie ja nichts mehr trank. Und Tabletten hatte sie auch keine mehr. Sie zog ihre Schuhe an, nahm ihre Tasche von der Küchentheke.
    Auf der Küchentheke zwei Tassen. Sie hatten noch zusammen gefrühstückt, bevor Suleika zur Yogastunde gegangen war. Was hatte Suleika gegessen? Vor dem Yoga sollte man eigentlich nichts essen. Aber sie wollte ihrer Tochter keine Vorschriften mehr machen. Zu lange hatte das Essen alles bestimmt. Sie erinnerte sich, dass sie ihre Tochter nach Marga ausgefragt hatte. Sie konnte es nicht lassen.
    Â«Wie oft ist sie denn dort?»
    Â«Ãœbernachtet sie auch schon mal da?»
    Â«Hast du das Gefühl, er mag sie? Ich meine, mehr als eine Mitarbeiterin. Ich meine, als Frau.»
    Â«Ja, Marga, warum denn nicht Marga?»
    Die Fragen waren aus ihrem Mund gesprungen wie kleine Kröten. Erika wollte sie mit beiden Händen aufhalten, in ihren Hals zurückschieben, aber es gelang ihr nicht. Eine giftige Frage nach der nächsten sprang aus ihrem Mund und landete zwischen ihnen auf der Küchentheke.
    Bis Suleika sich schließlich angewidert abgewandt hatte. «Das kannst du nicht machen», hatte sie gesagt. «Du kannst mich nicht in eure Geschichten reinziehen, das ist einfach nicht fair. Rede halt selber mit Dad!» Dann war sie aufgestanden und gegangen. Ohne zu essen? Erika wollte ihre Tochter nicht unter Druck setzen. Sie wollte das Essen, das ihre Beziehung bestimmte, nicht mehr zum Thema machen. Viel hilfreicher war es doch, sie über das Liebesleben ihres Vaters auszufragen!
    Â«Aber er ist es doch, der dich hineinzieht, der Marga mitnimmt nach Indien und dich hier sitzenlässt!», hatte Erika hinter ihr hergerufen. Als Antwort knallte die Tür zu. Erika war eingefallen, dass sie später Dante treffen sollte. Und dass sie noch keinen Vorschlag für einen Comic zum Ersten August gemacht hatte. Sie hatte ihre Wut hinuntergeschluckt, sich vor ihre Wohnung in die Sonne gesetzt und angefangen zu zeichnen. Sie hatte den Streit mit ihrer Tochter komplett vergessen. Und jetzt hatte Suleika sich weh getan. Weh getan? Beim Yoga?
    Erika ging hinaus. Sie schloss hinter sich ab und steckte den Schlüssel in ihre Handtasche. Sie hatte alles unter Kontrolle. Rebecca nahm sie an der Hand und zog sie hinter sich her. Sie lief mit ganz kleinen Schritten und beinahe, ohne die Füße zu heben. Dazu sprach sie ununterbrochen vor sich hin: «Ich weiß nicht, was passiert ist, sie stand hinter mir, sie stand hinter mir im Krieger – wir mussten den Krieger lange halten, Nevada sagt immer ‹die Kriegerin›, aber ich weiß, dass es richtig der Krieger heißt, es gibt den stolzen Krieger, den tapferen Krieger, den furchtlosen Krieger – aber keine Kriegerin. Das sagt sie nur, damit wir uns besser fühlen. Es war heiß, und alle keuchten schon, wir sollen ja durch die Nase atmen, aber die meisten können das nicht durchhalten auf die Länge, ich selber schwitze

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