Das wahre Leben
nie, das ist, weil ich untergewichtig bin, aber die anderen schwitzten, und es begann zu riechen, und plötzlich hörte ich dieses Geräusch hinter mir, dieses Krachen, und ich drehte mich um, und da lag sie, Suleika lag auf dem Boden, und sie zitterte, und sie hatte Schaum vor dem Mund, und Stefanie rannte ins Ãrztehaus, und ich rannte zu Ihnen, Erika, ich kam Sie holen. Suleika braucht ihre Mama, kommen Sie schnell, schnell.»
Als sie sich der Turnhalle näherten, hörten sie das Jaulen einer Ambulanz.
«O Gott, o Gott, o Gott», murmelte Rebecca. Sie hielt Erikas Hand in ihrer, die trocken und kühl war wie aus Papier. Erika konnte nicht mehr atmen. Die Sirene füllte ihren ganzen Brustraum. Blind rannte sie hinter Rebecca her zur Turnhalle. Im Eingang standen die Mädchen herum, mehr Mädchen, als an der Stunde teilnahmen. Nicht nur Mädchen, auch Jungen, Erwachsene, Schaulustige. Sie wichen zur Seite, Erika sah sie verzerrt wie im Spiegelkabinett, die entsetzt verzogenen Gesichter, die neugierigen Blicke.
Ein Rollstuhl schob sich ihr in den Weg, die Yogalehrerin. Suleika hatte mit widerwilligem Respekt von ihr erzählt. Erika erkannte die Frau, die mit Dante zur Meditation gekommen war. Nicht seine Mutter, seine Freundin.
«Erika, gut, dass du da bist», sagte sie. «Suleika ist während der Yogastunde zusammengebrochen. Der Arzt ist bereits bei ihr», sagte sie.
Erika schubste sie aus dem Weg, der Rollstuhl drehte sich im Kreis. Die Turnhalle schien riesig. Unendlich weit hinten sah sie den Fleischberg liegen. Der ihre Tochter war. Ein Mann kniete vor ihr. Erika kämpfte sich auf die beiden Gestalten zu. Sie bewegte sich wie in Zeitlupe, ihre Tochter wich vor ihr zurück, je schneller sie zu ihr hinrannte. Da richtete der Mann sich auf und drehte sich zu Erika um.
Einen Augenblick lang blieb alles stehen. Und rückte sich wieder zurecht.
«Du?», sagte sie.
«Niita», rief er. «Mein Gott!»
Sie sah sich vor fünfzehn Jahren durch die Tür der Notaufnahme des Kinderspitals treten, ihre neugeborene Tochter auf dem Arm. «Ich habe mein Kind fallen lassen», sagte sie. Eine Pflegefachfrau in einem rosa Kittel nahm ihr das Bündel aus dem Arm. Und da war Lukas, ihr früherer Wohnpartner, als erschöpfter Assistenzarzt in der Notaufnahme. Die Erleichterung, die sie damals erfüllt hatte, als sie ihn sah, im schlimmsten Augenblick ihres Lebens, dieselbe Erleichterung überschwemmte sie jetzt. Ihre Knie gaben nach, sie sank neben dem Kopf ihrer Tochter zu Boden. Sie nahm Suleikas Gesicht zwischen ihre Hände. Sie sah aus, als schlafe sie. Mit blutverschmiertem Mund.
«Sie hat sich auf die Zunge gebissen», sagte Lukas. «Sieht schlimmer aus, als es ist.»
Wie damals.
«Was ist passiert?»
«Scheint, als hätte sie einen epileptischen Anfall gehabt. Sie trägt aber kein Armband â¦Â»
«Suleika? Sie hatte noch nie einen epileptischen Anfall!»
Lukas runzelte die Stirn.
Erika sah ihm an, dass er sich an alles erinnerte. «Es ist doch nicht vererbbar?», fragte sie. «Oder doch?»
«Ich kann nicht sagen, was den Anfall ausgelöst hat. Wir können hier kein EEG machen, darum habe ich einen Krankenwagen bestellt. Wir bringen sie ins Unispital.»
Suleika blinzelte. Dann öffnete sie die Augen. «Autsch», murmelte sie. Ihre Stimme klang undeutlich. Sie sprach wie von weit her. Und schloss die Augen gleich wieder.
Erika schluchzte auf. Zwei Sanitäter kamen angerannt. Erika erinnerte sich, dass man im Krankenhaus nicht rennen durfte. Sie erinnerte sich an das Geräusch der schnellen Schritte im Flur vor der Intensivstation. Das Unheilvolle dieser schnellen Schritte, die aber kein Rennen waren, schnürte ihr aus fünfzehn Jahren Entfernung die Kehle zu.
«Hueregopfertamisiech», hörte sie einen der Männer fluchen.
Lukas herrschte ihn an: «Scht!»
Die Männer diskutierten halblaut, aber heftig weiter. «⦠doch sagen können», hörte Erika. «Brocken ⦠Spezialtrage ⦠Bandscheibenvorfall letztes Jahr â¦Â»
Lukas hatte Suleikas Gewicht nicht erwähnt, als er die Ambulanz bestellte. Danke, dachte Erika. Sie strich ihrer Tochter das schweiÃnasse Haar aus dem Gesicht.
Wie sah dein Gesicht aus, bevor du geboren wurdest? Das hatte sie in einem Meditationsvortrag gehört. Wie sah dein Gesicht aus, bevor deine Mutter geboren
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