Das wahre Leben
wurde? Erika versuchte, durch die Schichten von Haut und Fett und Fleisch zu sehen.
Sie hatte alles anders, alles richtig machen wollen. Nicht wie ihre eigene Mutter. Wenn sie konsequent das Gegenteil von dem machte, was ihre Mutter getan hatte, musste sie selbst doch eine gute Mutter werden. Doch gute Mütter haben keine fetten Töchter. Wer Suleika sah, fragte sich sofort, was ihre Mutter, was Erika falsch gemacht hatte.
Erika erinnerte sich an einen Aufsatz von Suleika aus dem Englischunterricht. Ãber ein Buch, das sie im Unterricht gelesen hatten, The Woman Who Walked Into Doors . Die Hauptfigur wurde von ihrem Mann verprügelt, aber sie verlieà ihn nicht. Sie liebte ihn weiter. «Explain Paulas behavior!»
«Wir haben das Phänomen des Stockholmsyndroms durchgenommen», hatte die Englischlehrerin erklärt. «Eine Gefangene, die isoliert ist, die keine anderen Kontakte hat als zu ihrem Peiniger, ihrem Gefängniswärter, wird sich zwangsläufig in ihn verlieben. Die meisten Schüler haben das verstanden.»
Suleika jedoch hatte die Beziehung zwischen Paula und ihrem Mann mit der eines Kindes zu seiner Mutter verglichen. Wenn eine Mutter ihr Kind schlecht behandelt, hatte sie argumentiert, dann kann das Kind das nicht als schlechte Behandlung erkennen. Sie kann das Verhalten der Mutter nicht in Frage stellen, jedenfalls nicht ungestraft. Sonst gibt es am Ende niemanden mehr, der sie liebt. Paula hat die Wahl, ihrem Instinkt zu vertrauen und zu sagen: Das ist falsch, er darf mich nicht schlagen, das tut man nicht, wenn man jemanden liebt â das würde aber heiÃen, Johnny zu verlieren. Und für Paula ist Johnny so überlebenswichtig wie eine Mutter für ihr Kind.
Eine Mutter liebt ihr Kind, das ist ein Naturgesetz, schrieb Suleika. Ein Kind, das von seiner Mutter schlecht behandelt wird, muss denken, dass es nicht geliebt wird. Es wird zwar wissen, dass es nicht richtig ist, wie es behandelt wird, aber es wird dieses Wissen beiseiteschieben, unterdrücken, runterschlucken. Und wenn es daran würgt â was wäre die Alternative? Die einzige Person zu verlieren, die es liebt.
Suleika hatte tatsächlich «runterschlucken» geschrieben, «swallow that knowledge» . Die Englischlehrerin hatte den Ausdruck mit einem roten Ausrufezeichen markiert.
Erika hatte genau gewusst, was Suleika meinte. Aber das bin doch ich, dachte Erika. Das bin ich! Ich und meine Mutter. Ich und mein Mann. Das ist nicht meine Tochter, denn bei meiner Tochter habe ich alles richtig gemacht. Ich habe sie gelobt und geliebt und festgehalten. Immer!
Runterschlucken. Erika spürte heute noch das Knirschen der Tablette zwischen ihren Zähnen, die sie auf dem Weg zum Gespräch mit der Englischlehrerin zerkaut und noch im Schulhausflur mit einem Schluck Wodka hinuntergespült hatte. Und wie sie das Gespräch durch einen sanften Nebel wahrgenommen hatte. Wahrscheinlich war es da gewesen, als sie einer erneuten Abklärung durch den Schularzt, den Schulpsychologen zugestimmt hatte.
Bluthochdruck. Diabetes Typ 2. Arterienverfettung. VergröÃerter Herzmuskel. Offene Stellen zwischen den Oberschenkeln, die aneinanderrieben, Hormonschwankungen. «Haben Sie Katzen?», hatte der Schularzt gefragt, ein dünner Bursche, der wirkte, als sei er noch im Studium. Erika hatte erst nicht gewusst, was er meinte, bis sie seinem Blick gefolgt war: Der weiÃe Bauch ihrer Tochter war mit roten Striemen überzogen. Schwangerschaftsstreifen.
«Haben Sie so etwas tatsächlich noch nie gesehen?» Es gab für Erika nur eine Art, den unausgesprochenen Vorwurf, der sie, die Mutter traf, abzuwehren. Mit Arroganz. Sie tat, als sei das immense Gewicht das Vorrecht ihrer Tochter. Sie lieà sich nicht anmerken, wie sehr sie dieser Vorwurf traf.
«Schauen Sie mich doch an», sagte sie zu dem Arzt. «Ich weià alles, was es über gesunde Ernährung zu wissen gibt. Ich halte Diät, seit ich so alt war, wie meine Tochter jetzt ist. In ihrem Alter war ich ein Fotomodell. Ich bin keine Mutter, die ihre Kinder mit Fastfood ruhigstellt. Also erzählen Sie mir nichts!»
Sie hatte es doch nur gut gemeint. Im Gegensatz zu ihrer eigenen Mutter. Obwohl diese vermutlich dasselbe behaupten würde. Aber ob sie es auch glaubte? Erika wusste, dass sie im Leben ihrer Mutter nicht mehr als eine Schachfigur war. Ein Werkzeug. Mittel zum Zweck. Marylou verfügte über
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