Das wahre Leben
hatte und spielte mit ihren Brustwarzen. So konnte man leben. So ging es. Tag für Tag. Er fütterte sie mit kalten Gemüsesuppen, er legte sie auf eine spezielle Kühldecke, die er für ihr Bett gekauft hatte. Darauf lagen sie nachts und schauten sich auf seinem Computer alte SchwarzweiÃfilme an.
«Farben heizen nur auf», erklärte er. «Stimmen aber auch. Gibt es etwas Kühleres als Stummfilme? Audrey Hepburn vielleicht? Oder Ingrid Bergman?» Sie schauten sich einen Film an, in dem Ingrid Bergman langsam den Verstand zu verlieren glaubte, nur weil ihr Mann das Gaslicht heller und dunkler drehte und dann so tat, als wisse er nicht, wovor sie sich fürchtete. Nevada erkannte die Verzweiflung der Frau im flackernden Gaslicht als ihre eigene. Auch ihre Schülerinnen litten darunter, dass es immer dunkler wurde in ihrem Zimmer und sie mit niemandem darüber reden konnten. Dass ihre Männer, Mütter, Freundinnen sagten: «Ich weià nicht, was du meinst, es ist doch schön hell hier.» Aber der Zweifel blieb, das Unbehagen. Und die Einsamkeit wurde immer gröÃer. Nevada weinte den ganzen Film hindurch. Dante wollte ihn ausschalten, aber sie bestand darauf, ihn zu Ende zu sehen. Sie weinte vor Mitleid und vor Erleichterung. Die Angst, die sie erkannte, die Verzweiflung waren nicht mehr ihre. Sie hatte sie abgelegt.
Nevada war durch eine geheime Tür getreten, von der sie nichts gewusst hatte. Sie lebte jetzt im Land der Glücklichen. Dort schlief sie ein, und dort wachte sie auf. Unbeschwert und ohne die Angst, Dante zu verlieren. Sie dachte nicht darüber nach, dass er jeden Tag sterben konnte. Wenn er vor ihr dran sein sollte, würde sie sich einfach umbringen. Den eigenen Leidensweg etwas abkürzen. Das Unausweichliche vorwegnehmen. Ãber ein Leben nach dem Tod hatte sie bisher nie nachgedacht. Das Leben vor dem Tod war schon anstrengend genug. Wie oft hatte sie gedacht: Es reicht jetzt, es ist genug. Jetzt dachte sie: So könnte es ewig weitergehen. Und das würde es auch. Denn eins wusste sie: Eine solche Liebe war stärker als das Leben. Und stärker als der Tod.
Dante stand morgens immer sehr früh auf und ging zur Meditation. Nevada war nur einmal mitgegangen. Es war ihr erstaunlich schwergefallen, sich auf nichts zu konzentrieren. Nur ihre Atemzüge zu zählen. Heimlich hatte sie im Kopf ihre Mantras rezitiert. Die Meditation, die sie gelernt hatte, war wie eine Hausapotheke, dachte sie. Die Kombination von Mantra, Yantra und Tantra â einer Anrufung, einem Bild und einem Konzept â war genau und wirkungsvoll. Sie lieà sich gezielt einsetzen. Wenn sie zum Beispiel über die Sonne meditierte, kam es darauf an, ob sie die Morgensonne meinte, die die letzte Dunkelheit der Nacht vertrieb. Oder die strahlende Mittagssonne, die wie eine junge, fruchtbare Frau alles möglich machte â nur ohne die Hitze. Die sanft scheinende Sonne als Freund, der einen verlässlich begleitet. SchlieÃlich die Abendsonne, die ihre milde Weisheit freigebig verströmt. Das Bild musste zum Konzept passen und das Konzept zur richtigen Anrufung. Im Sanskrit gab es vierundzwanzig Namen für die Sonne, für ihre männlichen und weiblichen Seiten, für all ihre Aspekte.
Das reine Zählen der Atemzüge schien Nevada zu reduziert, zu wenig dramatisch. Zu wenig wirkungsvoll. Trotzdem erkannte sie die Art der Meditation, die Dante übte, als Hilfsmittel für das tägliche Leben. Als Ergänzung der ihren, die eine Art von Krisenbewältigung war. Die beiden Methoden passten perfekt zueinander, genau wie Dante und sie selber. Als Teile eines Ganzen.
Nevada stand morgens zusammen mit ihm auf. Während er im Meditationszentrum war, übte sie ihr Yoga. Jeden Tag ein bisschen anders. Im Bett, dann im Sitzen auf der Bettkante, schlieÃlich auf dem Boden oder im Rollstuhl. Sie dehnte und drehte ihren Körper, bog ihn vor und zurück. Sie versuchte, in schwierigen Stellungen auszuharren und weiterzuatmen. Sie atmete in alle Winkel ihres Selbst. Dann ging sie allein ins Bad und wusch sich im Waschbecken. Die Dusche in der Badewanne konnte sie nicht benutzen. Es gab zwar einen Haltegriff an der Wand, den konnte sie vom Stuhl aus aber nicht erreichen. Dante hatte versprochen, einen Plastiktritt an der Badewanne anzubringen. Dann hatte er es wieder vergessen. Meist war er ja da, wenn sie ein Bad nehmen wollte. Manchmal war es
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