Das wahre Leben
sie wie über ihren Besitz. Ihrer eigenen Tochter gegenüber fühlte Erika ganz anders. Vom Moment ihrer Geburt an hatte sie sie als fremd empfunden. Kostbar und anders. Dass sie diesem perfekten winzigen Wesen nicht gerecht werden konnte, hatte sich bereits am zehnten Tag nach Suleikas Geburt erwiesen.
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«Komm.» Lukas stand neben ihr. Erika schaute zu ihm auf. Er streckte seine Hand aus, sie nahm sie, er zog sie hoch. Sie stolperte gegen ihn, er hielt sie einen Augenblick fest. So stand sie abgewandt von ihrer Tochter, von den jetzt nur noch leise fluchenden Sanitätern, die Suleikas schweren Körper mit Mühe auf die Trage wuchteten.
«Ich bring dich zur Notaufnahme», sagte er.
«Kann ich nicht mit der Ambulanz mitfahren?»
«Tut mir leid, nein. Kein Platz.» Der eine Sanitäter schaute immer noch verstimmt. Als sei Suleikas Gewicht ein Angriff gegen ihn persönlich. Erika kannte dieses Gefühl. Wie viel Aggression dieser Fleischpanzer hervorrief!
«Mama!», rief Suleika plötzlich. «Mama, wo bin ich?»
«Ich bin hier, Schatz, ich bin hier.»
Du bist alles, was ich habe. Ich bin alles, was du hast. Ich bin du. Du bist ich. Es gibt keine Grenze zwischen uns. Erika hatte mit Suleika alles genauso gemacht, wie Marylou es mit ihr gemacht hatte.
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2.
Erika lag auf dem FuÃboden. Auf dem glatten, kalten Marmorboden in der neuen Küche. Das war das Erste, was sie sah. Das Muster auf dem Boden. Nichts tat ihr weh. Sie lag auf der Seite. In ihrem Arm, an ihrem Körper lag ein Kind. Ihr Kind. Sie richtete sich auf. Warum lag sie auf dem Boden? War sie eingeschlafen? Warum war sie in der Küche? War sie eingeschlafen, war sie hingefallen? Lebte ihr Kind noch?
Vor zehn Tagen war Suleika zur Welt gekommen, nach einem langen, kalten Winter. Erika hatte auf ihr Kind gewartet wie auf die erste Sonne. Mit jedem Tag, der verging, nachdem der errechnete Geburtstermin verstrichen war, glaubte sie weniger daran, dass das Kind noch kommen, dass die Sonne je wieder scheinen würde. Im Zürcher Zoo wurde gerade die Geburt eines Elefanten erwartet. Wie lange die Elefantenkuh Ceyla schon trächtig war, wusste niemand so genau. So konnte über den Geburtstermin nur spekuliert werden. Die Zoobesucher drängten sich vor dem Elefantengehege, die Presse kämpfte um Exklusivrechte, doch schlieÃlich gebar Ceyla still und heimlich, mitten in der Nacht, allein.
Erika hatte ihre Schwangerschaft lange verbergen können, sogar vor sich selbst. Die morgendliche Ãbelkeit war ihr willkommen gewesen, sie hatte in den ersten drei Monaten sogar abgenommen, obwohl sie ohnehin schon sehr schlank war. Dann war ihr Bauch über Nacht explodiert, und sie hatte in kürzester Zeit fast dreiÃig Kilo zugenommen.
«Habe ich Ihnen die Broschüre über gesunde Ernährung in der Schwangerschaft schon mitgegeben?», fragte die Praxishilfe bei jedem Besuch, obwohl Erika alles ablegte, bevor sie auf die Waage stieg, ihren schweren Goldschmuck, die Haarklammern, die Armbanduhr, die Schuhe. Erika kannte jede Diät.
«Wassereinlagerungen», sagte der Arzt. Er verschrieb einen Reistag pro Woche. Erika aà von da an nur noch Reis. Jeden Tag. Aber sie trank weiterhin Wein. Ein Glas pro Tag gönnte sie sich. Ein Glas pro Tag konnte doch nicht schaden, sonst müssten ja ganze Völker versagen, in denen das üblich war. Erika trank nicht zum Essen, weil sie ja nichts aÃ. Sie trank heimlich, im Stehen, in der Küche. Ein Glas WeiÃwein. WeiÃwein machte nicht dick. Sie füllte einen groÃen Kelch bis zum Rand und trank in schnellen kleinen Schlucken, so stellte sich die Wirkung am schnellsten ein, diese angenehme Leichtigkeit, diese leichte Verwirrtheit, die Lockerheit. Wenn sie ein Glas Wein getrunken hatte, konnte sie zurück ins Esszimmer gehen und sich mit ihren Gästen unterhalten, mit ihrem Mann.
Auf die Geburt war sie in keiner Weise vorbereitet gewesen, obwohl sie alle Kurse besucht hatte. In den Kursen hatte man ihr vorgemacht, sie würde die Schmerzen wegatmen können. Und das hatte sie geglaubt. Sie hatte fleiÃig geübt, sie hatte sich von Max abfragen lassen. «Hechelatmung!», rief er, und sie hechelte. Die Augen fest auf ihn geheftet: Siehst du, wie gut ich es mache?
Max hatte erst bei der Geburt gar nicht dabei sein wollen. Marylou unterstützte ihn darin. «Das ist nichts für einen Mann», sagte
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