Das wahre Leben
bekommen weniger Unterstützung als wir. Obwohl sie dieselben Probleme haben: hoher Ausländeranteil, Jugendarbeitslosigkeit, schwierige Familienverhältnisse, Armut, Drogen, Gewalt ⦠Aber bei uns in der Siedlung ballen sie sich so, dass der Stadt gar nichts anderes übrigbleibt, als uns Geld zu geben.»
Ted nahm dieses Geld, um ein Feuer zu entfachen. Um Lebenswege umzuleiten. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, jedem Kind eine Chance zu eröffnen. Unter allen Umständen. «Können wir wirklich davon ausgehen, dass das Projekt gescheitert ist?», fragte die Schulpsychologin mit einem entschuldigenden Lächeln. Plötzlich hasste Nevada diese beiden Beamtinnen, die bittere Sozialarbeiterin und die mutlose Schulpsychologin, mit einer Leidenschaft, die sich mit ihren yogischen Prinzipien nicht vereinbaren lieÃ.
«Nein!», rief Ted. «Nein, das können wir nicht. Erstens haben wir noch zwei Wochen, und zweitens lassen sich diese Mädchen nicht in Powerpoint pressen. Genauso wenig wie du und ich, Renate!»
Nevada hörte, dass er den Tränen nahe war. Sie war immer noch seine Yogalehrerin. Mehr als seine Mitarbeiterin. Und in beiden Funktionen hatte sie ihn im Stich gelassen. Schade, dachte sie. Die Krankheit hatte sie zu einer besseren Lehrerin gemacht. Das Glück zu einer schlechteren. Im Glück kreiste sie um sich selbst. Im gröÃten Glück nützte sie niemandem. War das aber nicht der Sinn ihres â jeden â Lebens? Anderen zu nützen?
Sie gab sich einen Ruck. «Ich treffe mich nachher mit dem behandelnden Arzt», sagte sie. «Wenn ich etwas falsch gemacht habe, wenn ich etwas übersehen habe, dann werde ich die volle Verantwortung dafür übernehmen.»
Und sie würde mit Lanas Muter reden. Sie würde alles wiedergutmachen. Alles.
«Ãbersehen? Das Mädchen wiegt hundertdreiÃig Kilo, was gibt es da zu übersehen?»
Â
2.
Nevada setzte auf die Rollstuhlkarte.
«Was wissen Sie denn von meiner Tochter?», rief Lanas Mutter. «Und warum kommen Sie erst jetzt?»
Trotzdem trat sie zur Seite und lieà Nevada in ihre Wohnung. Sie wollte reden. Sie wollte, dass ihr jemand zuhörte.
«Es tut mir wirklich leid, Frau Ferrara», sagte Nevada. «Ich wollte ja sofort vorbeikommen, aber wissen Sie, ich musste vor kurzem umziehen, in eine rollstuhlgängige Wohnung, ist nicht ganz einfach â¦Â» Immer noch besser als: Ich habe mich verliebt und alles andere vergessen.
«Na ja, Frau Siebenthaler war natürlich schon da. Und Frau Rothenbühler auch.» Lanas Mutter ging voraus in das offene Wohn-Esszimmer, das fast ganz von einer hölzernen Rampe ausgefüllt war.
«Mein Jüngster. Er ist ein vergifteter Skater.»
«Wie viele Kinder haben Sie denn?»
«Also, es kommt darauf an, wie Sie zählen â übrigens, ich heiÃe Lena, wollen wir uns nicht duzen?»
«Gern. Nevada.» Lena und Lana, dachte sie. Interessant. Das älteste Kind? Unschlüssig blieb sie mit dem Rollstuhl stehen, zwischen der Küchentheke und der Halfpipe blieb nicht viel Platz.
Lena öffnete den Kühlschrank und nahm einen blauen Steingutkrug heraus. «Selbstgemachter Eistee», sagte sie. «Mit frischer Minze vom Balkon. Magst du?» Sie schenkte zwei Gläser ein und sah sich um. «Normalerweise sitzen wir halt hier», sagte sie. Vier Hocker standen um die Küchentheke herum. «Gehen wir auf den Balkon.»
DrauÃen war es angenehm kühl. Bei den oberen Stockwerken wehte fast immer ein leiser Wind.
«Angenehm», sagte Nevada. Sie nippte am Eistee. Sie wollte nicht wissen, was Lena den Damen Siebenthaler und Rothenbühler erzählt hatte. Noch Wochen nach dem Vorfall sprach Empörung aus jeder ihrer Gesten. Nevada hätte lieber mit Lana selber gesprochen, doch ihre Mutter hatte es nicht erlaubt. «Noch mal: Es tut mir leid, dass ich nicht früher gekommen bin. Ich hätte wirklich gerne gewusst, warum Lana nicht mehr in den Yogakurs kommt. Vor allem, wenn sie sich bei einer Ãbung Schmerzen zugezogen hat.» Das Mädchen hatte nichts von Rückenschmerzen gesagt. Daran hätte Nevada sich erinnert. Da war sie sich trotz allem sicher.
«Ich war ja von Anfang an dagegen, dass Lana überhaupt an dem Programm teilnimmt.» Lena zündete sich eine Zigarette an. «Stört es dich?», fragte sie erst, als sie schon brannte.
Nevada
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