Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug
machen, nicht einfacher«, erwiderte er, die Mundwinkel ernst, während seine Augen schmunzelten. »Wir erfinden verschiedene Bezeichnungen für Sachen, die nicht verschieden sind, um eine Unterscheidung zwischen ihnen herbeizuführen. Ich habe gelesen, daß die Menschen so etwas in dunkelster Vergangenheit bei Tiergruppen taten. Die Gruppe hieß bei jeder Tierart anders. Das hat sich bis heute nicht geändert. Wir sagen, ein Schwarm Krähen oder eine Meute Fustigare. Dadurch klingen wir gelehrt. Wir Spieler klingen gern in allen Aspekten des Spiels gelehrt. Also benutzen wir die richtigen Bezeichnungen für die Gefahren, die wir eingehen. Es hört sich dramatischer und befriedigender an, ›Magiermacht Neun‹ zu sagen anstatt ›Ich haue Euren Magier gleich in Stücke …‹« Wir lachten. Er fragte, ob wir es verstanden hätten. Ich erwiderte, daß ich nur zu gut verstünde. Königsblut Vier meinte, daß der König nicht ernsthaft bedroht war, möglicherweise aber eine andere Figur.
»Das stimmt«, sagte er achselzuckend. »Es müssen immer Figuren geopfert werden. Talisman, Totem, Fetische verschiedenster Art. Bauern oder geringere Figuren, die geopfert werden, weil ein Zug erforderlich, der Spieler aber nicht gewillt oder bereit ist, mit einer wertvollen Figur zu ziehen. Und dann gibt es noch die Geisterfiguren …«
»Ich dachte, das seien Märchen«, sagte Yarrel. »Um Kinder zu erschrecken …«
»O nein. Es gibt sie wirklich.« Der alte Mann ordnete das Tuch um seine Schultern neu und rekelte sich bequemer in den geflochtenen Korbstuhl. »Die Toten, die von Nekromanten erweckt werden, waren schließlich in ihrem Leben Spieler. Also werden sie Geisterspieler – mit Geistertalenten.« An diesem Punkt des Gesprächs, gerade als wir Hunderte von Fragen auf den Lippen hatten, schlief er ein. Bevor er wieder aufwachte, um seine Lektionen fortzusetzen, rief der Schildwächter vom Turm eine Warnung herab, und wir schauten hoch, um eine Staubwolke auf der Straße zu erblicken, die vom Waldrand zum Haus führte. Ich stand neben Windlow, als der Ruf ertönte, und er erwachte jäh, die Augen von Schmerz und tiefer Wachsamkeit erfüllt.
»Prionde, der Hochkönig, hat diese Männer geschickt«, sagte er. »Man hat ihm tiefes Mißtrauen uns gegenüber eingeflößt. Es kam jemand zu ihm, der Lügen über Schuld und Verrat verbreitete. Die Wache kommt, um uns alle gefangenzunehmen.« Ich sah Tränen in seinen Augen. »Armer Prionde! Wie schmerzlich, daß es mit meinem alten Schüler soweit kommen mußte.«
»Dazzle«, sagte Seidenhand, die neben ihm saß und seine Hand hielt, wie sie es jeden Tag stundenlang tat. »Dazzle und Borold sind gekommen.« Sie sagte es mit großer Überzeugung. Natürlich konnte sie das nicht SEHEN. Sie besaß dieses Talent nicht, aber sie wußte es trotzdem. Wir vernahmen ihre Worte und glaubten ihr. So waren wir nicht unvorbereitet, als die staubbedeckten Soldaten hereinritten, uns wie Vieh zusammentrieben, wobei sie den alten Mann nicht besser als ein Schaf behandelten, und uns schließlich alle in den Turm sperrten, wo wir der kommenden Dinge harren sollten. Seidenhand sprach einen der Soldaten freundlich an und fragte ihn, ob eine Prinzessin zur Hohen Domäne gekommen sei. Ja, erwiderte dieser. Eine sehr schöne Prinzessin mit ihrem Bruder, einem Herold, und einer Gruppe Pfandleiher seien gestern in die Domäne gekommen. Seidenhand hatte genug gehört. Sie setzte sich in eine Ecke und weinte den ganzen Morgen.
»Aber sie hätten doch nur einen Dämon zu schicken brauchen, um uns LESEN zu lassen«, protestierte ich. »Das haben sie doch so oft getan, seit wir hier sind! Sie wissen, daß wir gegen den König nichts im Schilde führen.«
»Mein Sohn, laß dich von mir belehren«, sagte Windlow mit leiser Stimme von der Pritsche her, auf die wir ihn gebettet hatten. »Wenn dir deine Familie als kleines Kind erzählt hätte, daß im Wald Ungeheuer leben, hättest du ihnen geglaubt. Später dann, wenn ein Holzfäller gekommen wäre, dich in den Wald geführt und zu dir gesagt hätte: ›Sieh mal, hier gibt es nichts außer Schatten und Licht, Blätter und Baumstämme, Vögel und Tiere. Sieh, ich zeige es dir. Schau mit eigenen Augen hin‹, hättest du zwar geschaut und nichts entdeckt, hättest aber trotzdem weiter daran geglaubt, daß im Wald Ungeheuer leben. Du hättest angenommen, sie seien unsichtbar oder hinter dir oder den Steinen versteckt oder vielleicht in den Bäumen selbst.
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