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Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug

Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug

Titel: Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
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…« Er spornte sein Pferd und entfernte sich von mir. Erst nachts, als wir unser Lager aufschlugen, sah ich ihn wieder. Er verhielt sich wie zuvor, aber wir sprachen nicht mehr miteinander. Während seiner Abwesenheit hatte ich an Mandor gedacht, daran, was ich einst für ihn gefühlt hatte. Es war nichts davon übriggeblieben, keine Spur. Es war mir nicht möglich, mich daran zu erinnern, was damals gewesen war. Zum ersten Mal fürchtete ich mich.
     
    Zum Zeitpunkt, als wir den letzten hohen Paß des Hidamangebirges überquert hatten und das letzte Stück der Straße nach Bannerwell hinunterritten, fürchtete ich mich noch mehr. Ich hatte sogar dem weißen Pferd verziehen. Es hatte mich ohne Murren und Klagen getragen und war dabei sichtbar abgemagert. Ein Blick auf mein Handgelenk, das eine Handbreit aus meinem Jackenärmel ragte, sagte mir einen der Gründe dafür. Geist und Gefühle waren möglicherweise durch die Reiseanstrengungen durcheinandergeraten, doch der Körper hatte nicht aufgehört zu wachsen. Ich schätzte die Länge der Hosen an meinem Schienbein und stellte fest, daß ich fast um eine Handspanne gewachsen sein mußte, seitdem wir Mertynhaus verlassen hatten. Meine Hand zitterte, als ich das Leder hinunterzog, um meine Beine besser zu bedecken, und meine Augen brüteten über dem knorrigen dichten Eichenwald, der die langgestreckten Berghänge vor uns bedeckte, an deren Fuß auf einem Felsen Bannerwell lag, von drei Seiten vom braunen Wasser eines Flusses umgeben.
    »Der Fluß Banner«, sagte der Dämon, der meine Frage gelesen hatte, bevor ich sie aussprechen konnte. »Von ihm hat Bannerwell seinen Namen. Die alte Quelle liegt innerhalb der Burgmauern, süßes Wasser für bittere Zeiten, wie man sagt.« Er warf mir einen seiner rätselhaften Blicke zu, bevor er den Reitertroß entlangschaute, alle durchzählte und uns zu seiner Zufriedenheit aufstellte. Ich bemerkte das Schweigen unter den Gefolgsmännern, die Feierlichkeit, mit der jeder von ihnen sich unserem Reiseziel näherte. »Man erwartete mich eigentlich schon vor Monaten zurück, Junge«, sagte der Dämon. »Ich ritt von hier aus geradewegs zur Schulstadt, aber du warst bereits fort.«
    Ich wußte, daß er meine Frage LESEN konnte, aber ich fühlte mich besser, wenn ich sie laut stellte. »Warum, Herr Dämon? Es ist doch nicht nur wegen der Freundschaft. Das wißt Ihr so gut wie ich. Wollt Ihr mich nicht den wahren Grund sagen?«
    Eine Weile dachte ich, er werde genausowenig darauf antworten wie das letzte Mal. Diesmal jedoch öffnete er schließlich zögernd die Lippen und sagte: »Wegen deiner Mutter, Junge.«
    »Ich habe keine Mutter. Ich bin ein Festivalkind.« Ich fühlte das tiefe Prickeln in meinem Kopf und wußte, daß er tief genug wühlte, um meine geheimsten Gedanken zu lesen. Seine Miene veränderte sich, und er wirkte halb ärgerlich, halb enttäuscht.
    »Natürlich hast du eine Mutter. Oder hattest eine. Ihr Name ist Mavin Vielgestalt, und sie ist die Schwester von Mertyn. Von König Mertyn, in dessen Haus du erzogen wurdest. Ich LAS es in Mertyns Gedanken während des Festivals. Es besteht kein Zweifel. Er sah, daß du in Gefahr schwebtest, und konnte nicht verhindern, dich in diesem Augenblick als Verwandten zu sehen. Er nannte dich thalan, ›meiner Schwester Sohn‹.«
    Aufruhr! Wir näherten uns Bannerwell, aber es war eine andere Person, die diese Mauern durch meine Augen erblickte, eine andere Person, die das Poltern der Brücke hörte, die sich über den Wassergraben senkte, das quietschende Geräusch der Ketten, die das Burgtor hoben, um uns einzulassen. Vermutlich sah und hörte mein Verstand dies alles, aber ich nicht. In meinem Innern strudelte ein Wirbel aus Schwärze und Helligkeit, Freudentaumel und zähneknirschender Wut, schweigend und schreiend, zog mich hinab und bewirkte daß ich buchstäblich alles um mich herum vergaß. Ich nahm nur flüchtig die faulenzenden Spieler im gepflasterten Burghof wahr, die Gärten hinter den schmiedeeisernen Toren, das Licht, das durch hohe Fenster fiel und glitzernde Muster auf schimmerndes schwarzes Holz malte. Den Geruch nach Kräutern. Und nach Fleisch, Blumen und Pferden, alles vermischt. Jemand sagte: »Stimmt mit ihm etwas nicht?« Und der Dämon erwiderte: »Laßt ihn eine Weile in Ruhe. Etwas hat ihn überrascht.«
    Überrascht. Nun, das war gut gesagt. Eher erstaunt. Perplex. Das war wohl das beste Wort dafür, denn es war wie ein prickelndes, taubes Gefühl, bei

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