Das Wahre Spiel 02 - Der Nekromant
zuguteschreiben ließ. Als ich wissen wollte, ob ein ›augenloser Seher‹ die Schenke manchmal besuchte, sagte man mir, der alte Vibelo würde bei Sonnenuntergang kommen. Also trank ich mit, lauschte den Gesprächen und wartete auf wen auch immer es sich bei dem alten Vibelo handeln mochte.
In den Gesprächen fiel auch das Wort verschwinden. Ein Zauberer aus einer Stadt drüben im Osten war verschwunden, ebenso ein angesehener Waffenträger, mitten aus seiner Sippe heraus. Das brachte mir Himaggery und Windlow ins Gedächtnis, und zu dem Zeitpunkt, als sich der blinde Seher durch die Tür in die Schenke tastete, war mein Gefühl des Erfolgs und meine Selbstzufriedenheit ziemlich geschrumpft. Ich begrüßte den Alten freundlich und bot ihm als Belohnung für seine Gesellschaft eine Mahlzeit an. Das schien ihn zu überraschen, doch er war nicht abgeneigt, das Beste aus dem Angebot zu machen. Nach einigen Krügen konnte ich seinen Redefluß kaum noch stoppen. So fragte ich ihn nach dem Namen des Ortes, aus dem er kam, und auf welchem Weg er zuerst nach Betand gelangt war.
»Oh, das ist eine Geschichte für sich.« Er hob seinen Kopf, und sein zahnloser Gaumen zeigte sich zwischen den gekräuselten Lippen. »Für einen Mann, der Zeit hat zuzuhören, lohnt es sich.«
Ich sagte, ich hätte Zeit. Da ich keine Ahnung hatte, was die nächsten Sätze von Mavins geheimnisvollen Anweisungen bedeuteten, war es sicher am klügsten, sich alles anzuhören, was er zu bieten hatte und zu hoffen, daß etwas Sinnvolles dabei herauskam. »Schießt los«, sagte ich. »Ich passe auf, daß Euer Glas gefüllt bleibt.«
Er fing sofort an zu erzählen und hielt nur noch inne, wenn er einen Schluck Bier trank oder sich noch mehr Essen in den Mund schob.
»Ich bin in Levilan aufgewachsen«, sagte er, »an den Ufern des Glitzernden Meeres, wo Spiele vor allem Spaß bedeuten und Seher nichts als Friede in der Zukunft erblicken. Es liegt ziemlich weit östlich von hier, Spieler, ziemlich weit entfernt. Wir haben dort nur wenige Schulen, wißt Ihr, und viele von uns wachsen bei ihren Familien zuhause auf. Ein friedliches Plätzchen …
Tja, friedlich wohl, aber langweilig, wenn Ihr versteht, was ich meine. Für einen jungen Burschen mit heißem Blut in den Adern und einem Herz, das nach Abenteuern verlangt, ist eine solche Ruhe langweiliger, als er ertragen kann. Als ich also so ungefähr zwanzig Jahre alt war, mit einem einigermaßen großen Talent (nicht, daß es wirklich groß gewesen wäre, aber groß genug für die meisten Zwecke), schloß ich mich einem Erkunder an, der nach Norden zu den Quellwassern des Flusses Flish und zu den Ländern dahinter aufbrechen wollte. Habt Ihr jemals einen Erkunder gesehen, Spieler? Ganz in weiches Leder gekleidet, mit einem Spähglas über der Schulter und einem Fellhut? Prächtig. Tja, das dachte ich damals … prächtig. Die Falterflügel einer Sehermaske sind auch nicht zu verachten, aber um Abenteuer zu bestehen, braucht es doch die Häute eines Erkunders.«
Er schüttete etwas Bier auf den Tisch und zog mit dem Finger eine lange, zittrige Linie darin. »Das ist der Fluß Flish, der vom Norden her in das Glitzernde Meer fließt. Die Berge beginnen ungefähr hier. Dort gibt es wilde Stämme, Bauern, die seit Anbeginn unserer Zeit nicht gezähmt wurden, riesige Schenker voller Bösartigkeit, Schattenmänner … Was Ihr Euch auch Märchenhaftes ausdenkt, Spieler, seid versichert, daß Ihr es dort finden werdet.
Wir zogen also los und immer vorwärts. Die Reise machte uns nichts aus, denn schließlich waren wir junge Burschen. Das Land wurde steil und immer steiler, und an manchen Stellen mußten wir die Pferde mit Tauen über die Felsen hieven und brauchten einen Tag für ein paar Kilometer. Am Ende aber kamen wir zu den Quellwassern des Flusses, einem großen Sumpf voller Schilfrohr und Vögeln und Geschöpfen mit Schuppen, die nachts aus dem Schilf kamen und schreckliche Fährten hinterließen. Und es gab fliegende Geschöpfe, stechende, länger als ein Finger. Es dauerte nicht lange, da wurde ich dicht am Auge gestochen, und das Auge schwoll zu, so daß ich auf dieser Seite nichts mehr sehen konnte. Ich machte mir deshalb aber nicht viel Gedanken. Ein Stich ist ein Stich und heilt wieder, dachte ich. Abgesehen von diesem. Er heilte nicht.
Weil der Weg nach Norden durch den Sumpf versperrt war, mußten wir uns nach Westen wenden, immer die Hügelkette entlang. Mein Auge wurde zunehmend blind, und
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