Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Dacey unermüdlich an seiner Unterrichtsmaschine, und selbst der Tod seiner Gattin Emily, die 1894 im Kindbett starb, beeinträchtigte seine Arbeit kaum. Was ihn mehrere Jahre später seinen Kurs ändern ließ, war die Entdeckung, wie sein Sohn Lionel von seinem Kindermädchen, einer gewissen Nanny Gibson, behandelt wurde. Dacey selbst war in der Obhut eines sehr liebevollen Kindermädchens aufgewachsen und nahm jahrelang an, dass die von ihm eingestellte Frau seinen Sohn ebenso behandelte, weswegen er sie hin und wieder ermahnte, sie solle nicht zu nachsichtig sein. Er war entsetzt, als er erfuhr, dass Nanny Gibson den Jungen regelmäßig schlug und ihm als Strafmaßnahme »Gregory’s Powder« (ein starkes und widerlich schmeckendes Abführmittel) verabreichte. Als Dacey erkannte, dass sein Sohn tatsächlich große Angst vor dem Kindermädchen hatte, entließ er sie sofort. Anschließend führte er lange Vorstellungsgespräche mit mehreren Frauen, die sich für die freigewordene Stelle beworben hatten, und war überrascht zu erfahren, welch unterschiedliche Auffassungen von Kindererziehung sie hatten. Manche der Frauen überschütteten ihre Schützlinge mit Zuneigung, während andere sogar härtere Strafen anwandten als Nanny Gibson.
Schließlich stellte Dacey ein neues Kindermädchen ein, ließ Lionel jedoch regelmäßig von ihr zu seiner Werkstatt bringen, um sie genauestens im Auge zu behalten. Für das Kind muss dies das reinste Paradies gewesen sein, und in Daceys Anwesenheit zeigte es sich stets gehorsam. Aufgrund der Diskrepanz zwischen seinen eigenen Beobachtungen und dem, was Nanny Gibson über das Betragen seines Sohnes berichtet hatte, begann Dacey, systematisch nach den bestmöglichen Erziehungsmethoden zu forschen. Seinem Hang zur Mathematik entsprechend betrachtete er das kindliche Gemüt als Beispiel eines labilen Systems. In seinen Notizen aus jener Zeit findet sich unter anderem Folgendes: »Nachgiebigkeit führt zu schlechtem Betragen, was das Kindermädchen verstimmt und es zu härteren Strafen veranlasst, als es angemessen wäre. Dies reut das Kindermädchen, und im Folgenden ist es dem Kind gegenüber noch nachsichtiger als zuvor. Es ist ein umgekehrtes Pendel, das zu immer stärkerem Ausschlag tendiert. Solange man das Pendel nur ruhig halten kann, ist keinerlei anschließende Korrektur nötig.«
Dacey versuchte, seine Philosophie der Kindererziehung etlichen von Lionels Kindermädchen zu vermitteln, doch alle berichteten nur, das Kind gehorche nicht. Es scheint Dacey nicht in den Sinn gekommen zu sein, dass Lionel sich bei den Kindermädchen anders benahm als bei Dacey selbst; stattdessen schlussfolgerte er, die Kindermädchen seien zu unbeherrscht, um seine Vorgaben zu befolgen. Einerseits teilte er die damals populäre Meinung, Frauen seien wegen ihrer Emotionalität zur Kindererziehung ungeeignet; mit seiner Ansicht, zu viel Strafe schade ebenso sehr wie zu viel Zuneigung, wich er jedoch davon ab. Schließlich entschied er, das einzige Kindermädchen, das in der Lage sei, sich an die von ihm festgelegten Richtlinien zu halten, würde ein von ihm selbst konstruiertes sein.
In Briefen an seine Kollegen führte Dacey mehrere Gründe dafür an, dass er sich dem Bau eines mechanischen Kindermädchens zuwandte. Erstens, so schrieb er, sei ein solcher Apparat bedeutend leichter zu bauen als eine Unterrichtsmaschine, und der Verkauf werde es ihm ermöglichen, die benötigten Mittel zur Fertigstellung der Letzteren zu beschaffen. Zweitens sah er darin die Möglichkeit, besonders früh einzugreifen: Indem er die Kinder schon als Säuglinge in die Obhut von Maschinen gebe, würden sie sich keine Unarten angewöhnen, die man ihnen später wieder austreiben müsse. »Kinder neigen nicht von Geburt an zur Sünde, sie werden vielmehr durch den Einfluss der Menschen verdorben, denen wir sie anvertrauen«, schrieb er. »Rationale Prinzipien in der Erziehung führen zu rationalem Verhalten bei Kindern.«
Es ist bezeichnend für die viktorianische Einstellung gegenüber Kindern, dass Dacey an keiner Stelle empfiehlt, Kinder bei ihren Eltern aufwachsen zu lassen. Über seine eigene Rolle in Lionels Kindheit schrieb er: »Mir ist klar, dass meine Gegenwart genau die Gefahren birgt, die ich unbedingt vermeiden möchte, denn ich bin zwar vernünftiger als jede Frau, doch für des Jungen Freude und Kummer durchaus empfänglich. Aber Fortschritt geht nun einmal langsam vonstatten, und auch wenn Lionel von
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