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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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als wenn ich sie von Grund auf neu, aus dem Nichts heraus erschaffen würde.
    Was tue ich mit meiner vierten Ampulle? Ich muss unablässig daran denken. Jede Enttäuschung während meines gegenwärtigen Stillstands erinnert mich daran, dass immer noch weitere Höhenflüge möglich sind.
    Natürlich ist es äußerst riskant. Diese Injektion könnte diejenige sein, die zur Hirnschädigung oder zum Wahnsinn führt. Es mag eine Versuchung des Teufels sein, aber nichtsdestoweniger bleibt es eine Versuchung. Ich sehe keinen Grund, ihr zu widerstehen.
    Ich hätte ein kleines Sicherheitsnetz, wenn ich mir die Spritze in einem Krankenhaus oder, falls das nicht ginge, mit jemandes Hilfe in meiner Wohnung setzen würde. Aber meiner Meinung nach wird die Injektion entweder erfolgreich sein oder irreparablen Schaden anrichten, daher verzichte ich auf diese Vorsichtsmaßnahmen.
    Bei einem Hersteller für medizinischen Bedarf bestelle ich verschiedene Utensilien und konstruiere ein Gerät, mit dem ich mir die Flüssigkeit selbst ins Rückenmark spritzen kann. Vielleicht dauert es mehrere Tage, bis die Wirkung vollständig eintritt, also werde ich mich im Schlafzimmer einschließen. Womöglich kommt es zu einem Gewaltausbruch; daher räume ich alles Zerbrechliche aus dem Zimmer und befestige Riemen am Bett. Die Nachbarn werden das, was sie hören, als Geheul eines Süchtigen interpretieren.
    Ich setze mir die Spritze und warte.
    Mein Gehirn steht in Flammen. Es ist, als würde mein Rückgrat sich durch die Haut brennen; ich fühle mich wie kurz vor einem Schlaganfall. Ich bin blind, taub, empfindungslos.
    Ich halluziniere. Ich sehe die Dinge mit solch übernatürlicher Klarheit und Deutlichkeit, dass es sich um Einbildung handeln muss. Um mich herum werden grauenerregende Dinge sichtbar: nicht physische Gewalt, sondern seelische Verstümmelung. Geistige Höllenqualen, Orgasmen. Tiefes Erschrecken, hysterisches Gelächter.
    Für einen kurzen Augenblick komme ich wieder zu mir. Ich liege auf dem Boden, die Hände ins Haar gekrallt, um mich herum einige Haarbüschel, die ich mir ausgerissen habe. Meine Kleider sind schweißnass, ich habe mir auf die Zunge gebissen, und mein Hals ist wund, vermutlich vom Schreien. Nach all den Krämpfen ist mein Körper völlig zerschunden, und angesichts der Prellungen an meinem Hinterkopf habe ich vermutlich eine Gehirnerschütterung, aber ich spüre nichts. Sind zehn Stunden vergangen oder nur wenige Augenblicke?
    Dann verschwimmt mir alles vor den Augen, und ich fange wieder an zu schreien.
    Kritische Masse.
    Offenbarung.
    Ich begreife die Funktionsweise meines Denkens. Ich verstehe genau, wie ich weiß, und mein Verständnis ist rekursiv. Ich erfasse die unendliche Tiefe dieser Selbsterkenntnis, nicht durch stetigen Fortschritt, sondern indem ich die Grenze begreife . Mein Denken über mein Denken ist wie ein offenes Buch. Eine neue Bedeutung des Begriffs »Ich-Bewusstsein«. Fiat logos. Ich erkenne meinen Geist in Begriffen einer Sprache, die ausdrucksstärker ist als alles, was ich mir je habe träumen lassen. Wie Gott durch ein Wort Ordnung aus dem Chaos erschuf, erschaffe ich mich mithilfe dieser Sprache völlig neu. Sie beschreibt und erschafft sich selbst; diese Sprache kann nicht nur das Denken, sondern auch ihren eigenen Gebrauch beschreiben und modifizieren, und zwar auf allen Ebenen. Was hätte Gödel gegeben, um eine solche Sprache zu erleben, deren Grammatik sich anpasst, sobald man eine Aussage modifiziert.
    Mithilfe dieser Sprache gelingt es mir zu verstehen, wie mein Geist arbeitet. Ich will nicht behaupten, ich könne meinen Neuronen beim Feuern zusehen – dergleichen passt eher zu John Lilly und den Experimenten, die er in den sechziger Jahren mit LSD gemacht hat. Aber ich kann tatsächlich die Gestalten erkennen; ich sehe, wie geistige Strukturen wachsen und interagieren. Ich sehe mich selbst denken und verstehe die Gleichungen, die mein Denken beschreiben, und ich sehe, wie ich selbst die Gleichungen begreife, und ich sehe, wie die Gleichungen das Verständnis ihrer selbst beschreiben.
    Ich verstehe, wie daraus meine Gedanken entstehen.
    Meine Gedanken jetzt in diesem Augenblick.
    Anfangs bin ich von all dem Neuen überwältigt und von der Erkenntnis meiner selbst wie gelähmt. Es dauert Stunden, bevor ich die Flut sich selbst beschreibender Informationen kontrollieren kann. Ich habe sie nicht unterdrückt, ungefiltert werden sie nun Teil meiner Denkvorgänge, sodass ich im

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