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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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Sprache zu bestimmen. Diese Sprache wird einen Dialekt ermöglichen, der die gesamte Mathematik beinhaltet, sodass jede Gleichung, die ich niederschreibe, eine linguistische Entsprechung haben wird.
    Doch die Mathematik wird nur ein kleiner Teil der Sprache sein, nicht das Ganze; im Gegensatz zu Leibniz bin ich mir über die Grenzen der formalen Logik im Klaren. In andere Dialekte, die mir vorschweben, sollen meine Aufzeichnungen im Bereich der Ästhetik und Kognition integriert werden. Das wird ein sehr zeitaufwendiges Projekt, aber das Ergebnis wird es mir ermöglichen, meine Gedanken viel klarer zu formulieren. Wenn ich all mein Wissen in diese Sprache übersetzt habe, müssten die von mir gesuchten Muster sichtbar werden.
    Ich unterbreche meine Arbeit. Bevor meine Sprache eine Ästhetik vermitteln kann, brauche ich erst ein Vokabular für alle nur vorstellbaren Emotionen.
    Ich kenne viele Gefühle, die über die der normalen Menschen hinausgehen; ich begreife, wie begrenzt ihr Spektrum ist. Die Liebe und die Angst, die ich früher empfand, haben sicher weiterhin Gültigkeit, aber ich sehe sie als das, was sie sind: Wie die Schwärmerei und Depressionen der Kindheit waren sie nur die Vorläufer dessen, was ich nun erlebe. Meine jetzigen Leidenschaften sind viel facettenreicher; in dem Maß, in dem mein Bewusstsein meiner selbst sich ausweitet, nehmen alle Gefühle an Komplexität exponentiell zu. Wenn ich mich an die vor mir liegenden schöpferischen Aufgaben wagen will, muss ich sie vollständig beschreiben können.
    Natürlich erlebe ich eigentlich viel weniger Emotionen, als es mir möglich wäre; meine Entwicklung wird durch die Intelligenz der Menschen um mich herum und den wenigen Umgang mit ihnen, den ich mir erlaube, eingeschränkt. Ich fühle mich an den konfuzianischen Begriff des Ren erinnert: Unzureichend durch »Wohlwollen« übersetzt, bezeichnet er jene zutiefst menschliche Eigenschaft, die sich nur im Umgang mit anderen Menschen entwickelt und die einem isolierten Menschen fehlt. Es gibt mehrere solcher Eigenschaften. Und da bin ich nun, von so vielen Menschen umgeben, und doch ist niemand da, mit dem ich mich austauschen kann. Ich bin nur ein Bruchteil dessen, was ein Individuum mit meiner Intelligenz sein könnte.
    Ich lasse mich weder durch Selbstmitleid noch durch Selbstüberschätzung täuschen: Meinen psychischen Zustand kann ich vollkommen objektiv und den Tatsachen entsprechend einschätzen. Ich weiß genau, welche Emotionen ich erleben kann und welche nicht, und welchen Wert ich ihnen jeweils beimesse. Ich empfinde kein Bedauern.
    Meine neue Sprache nimmt allmählich Form an. Sie ist gestaltorientiert und wie geschaffen, um Gedanken auszudrücken, aber wenig geeignet zum Schreiben oder Sprechen. Würde man sie aufschreiben, dürfte man die Worte nicht linear aneinanderreihen; es müsste vielmehr ein gewaltiges, als Einheit wahrzunehmendes Ideogramm sein. Noch weit besser als ein Bild könnte ein solches Ideogramm vermitteln, was tausend Worte nicht vermögen. Die Komplexität jedes Ideogramms entspräche der Information, die es transportieren würde; ich ergötze mich an der Vorstellung eines gewaltigen Ideogramms, welches das gesamte Universum beschreibt.
    Für diese Sprache ist Schrift zu schwerfällig und statisch; das einzig dafür taugliche Medium wäre ein Video oder ein Holo, das ein stetig wachsendes, anschauliches Bild zeigt. Zieht man die beschränkte Bandbreite des menschlichen Kehlkopfes in Betracht, wäre es völlig unmöglich, eine solche Sprache zu sprechen.
    Schimpfwörter aus alten und modernen Sprachen wirbeln durch meinen Geist und verspotten mich mit ihrer primitiven Beschränktheit. Sie erinnern mich daran, wie viel geeigneter meine ideale Sprache wäre, um meiner gegenwärtigen Frustration mit ausreichend bösartigen Begriffen Ausdruck zu verleihen.
    Es gelingt mir nicht, meine künstliche Sprache zu vollenden. Das Vorhaben ist für meine gegenwärtigen Fähigkeiten zu gewaltig. Nach wochenlangen konzentrierten Anstrengungen habe ich nichts Brauchbares zustande gebracht. Ich habe versucht, die Sprache aus bereits vorhandenen Mitteln zu formen, und dazu die von mir bereits früher erfundene, rudimentäre Sprache verwendet, um sie von Grund auf neu zu erschaffen und mit der Zeit immer mehr zu vervollständigen. Doch jede Version macht ihre Unzulänglichkeit nur noch deutlicher und zwingt mich, mein eigentliches Ziel immer weiter aufzuschieben. Das ist auch nicht besser,

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