Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
nach dem Aussehen beurteilt werden? Was, wenn man seine Kinder in einer solchen Umgebung erziehen könnte?
Zu Beginn stand die Schule nur den Kindern der Kommune offen, aber dann begannen die Medien, über Calliagnosie-Schulen zu berichten, und es dauerte nicht lange, bis wir die ersten Anfragen von Eltern bekamen, die ihre Kinder auf unsere Schule schicken wollten, ohne gleich unserer Lebensgemeinschaft beizutreten. Schließlich bekam Saybrook den Status einer Privatschule und war damit offiziell kein Teil unserer Kooperative mehr. Aber es gehörte zu den Aufnahmekriterien, dass Eltern sich dazu verpflichten mussten, Calliagnosie zu haben, solange ihre Kinder die Schule besuchten. Und jetzt gibt es hier eine ganze Ortschaft, in der jeder Calliagnosie hat, alles nur wegen der Schule.
Rachel Lyons:
Tameras Vater und ich haben lange darüber nachgedacht, bevor wir sie an der Schule angemeldet haben. Wir haben mit den Leuten dort gesprochen und festgestellt, dass dieser pädagogische Ansatz uns zusagt, aber richtig überzeugt hat mich dann der Besuch der Schule.
Saybrook hat einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Schülern mit Gesichtsfehlbildungen durch Knochenkrebs, Verbrennungen oder Geburtsfehler. Diese Eltern sind hergezogen, damit die Kinder nicht von der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, und das klappt. Ich weiß noch, dass bei meinem ersten Besuch eine Klasse mit Zwölfjährigen ihren Klassensprecher wählte, und sie wählten ein Mädchen, dessen eine Gesichtshälfte starke Verbrennungsnarben aufwies. Dieses Mädchen war völlig unbefangen und sehr beliebt bei Kindern, die ihr an jeder anderen Schule wahrscheinlich aus dem Weg gegangen wären. Und da dachte ich: Das ist genau die Umgebung, in der meine Tochter aufwachsen soll.
Mädchen wird immer wieder beigebracht, dass ihr Wert von ihrem Aussehen abhängig ist; ihre Leistungen werden höher eingeschätzt, wenn sie hübsch sind, und niedriger, wenn das nicht zutrifft. Und was noch schlimmer ist, manche Mädchen lernen dabei, dass sie nur aufgrund ihres Aussehens wirklich gut durchs Leben kommen können, und versäumen es, auch ihren Verstand zu schärfen. Ich wollte Tamera von solchen Einflüssen fernhalten.
Gutes Aussehen ist grundsätzlich eine passive Eigenschaft. Selbst wenn man daran arbeitet, arbeitet man daran, passiv zu sein. Ich wollte, dass Tamera ihre Selbsteinschätzung aus dem zieht, was sie wirklich leisten kann, mit ihrem Kopf und ihrem Körper, und nicht daraus, wie dekorativ sie sich ausnimmt. Ich wollte nicht, dass sie passiv ist, und ich bin stolz darauf, dass sie das auch nicht geworden ist.
Martin Lyons:
Ich habe nichts dagegen, wenn sich Tamera als Erwachsene gegen Calli entscheidet. Es ging nie darum, ihr etwas vorzuenthalten. Aber das Aufwachsen an sich ist schon anstrengend genug; dabei kann man von Gruppenzwängen völlig zerrieben werden. Die übermäßige Beschäftigung mit dem eigenen Aussehen ist genau so ein Gruppenzwang, und alles, was diesen Zwang zumindest teilweise abschwächen kann, ist in meinen Augen von Vorteil.
Wenn man erst einmal älter ist, dann ist man auch besser gewappnet, um sich dem Thema des eigenen Aussehens zu stellen. Man fühlt sich dann wohler in der eigenen Haut, geborgener, selbstsicherer. Es ist eher zu erwarten, dass man mit dem eigenen Aussehen zufrieden ist, ob man nun »gut« aussieht oder nicht. Natürlich erreicht nicht jeder diese Reife im gleichen Alter. Manche Menschen sind schon mit sechzehn so weit, andere müssen dazu dreißig werden oder noch älter. Aber achtzehn ist nun einmal juristisch als der Zeitpunkt festgelegt, an dem jede Person ihre eigenen Entscheidungen treffen darf, und man kann dann nur darauf vertrauen, dass das eigene Kind die nötige Reife besitzt, und das Beste hoffen.
Tamera Lyons:
Es war irgendwie ein komischer Tag heute. Komisch, aber gut. Heute Morgen wurde meine Calli abgeschaltet.
Das Abschalten an sich war einfach. Die Krankenschwester hat ein paar Elektroden angebracht, und dann musste ich diesen Helm aufsetzen, und sie zeigte mir einen Haufen Bilder mit Gesichtern. Dann tippte sie eine Minute auf ihrer Tastatur herum und sagte: »Ich habe die Calli jetzt abgeschaltet.« Das war’s. Ich dachte, man würde etwas spüren, wenn das geschieht, aber das tut man nicht. Dann zeigte sie mir noch einmal die Bilder, nur um sicherzugehen, dass es auch funktioniert hat.
Als ich mir die Gesichter jetzt noch mal ansah, da wirkten einige ... anders. So, als
Weitere Kostenlose Bücher