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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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Obwohl unsere Gene immer versuchen, Symmetrie zu erreichen, wirken viele Faktoren während der körperlichen Entwicklung dem entgegen. Jeder störende Umweltfaktor – Mangelernährung, Krankheit oder Befall durch Parasiten – führt zu den unterschiedlichsten Asymmetrien. Symmetrie dagegen deutet auf Widerstandsfähigkeit gegen solche Einflüsse hin.
    Andere Eigenschaften haben mit den Proportionen des Gesichts zu tun. Wir werden angezogen von Proportionen, die in etwa dem Durchschnitt der Bevölkerung entsprechen. Das hängt natürlich von der ethnischen Zugehörigkeit ab, aber die Nähe zum Durchschnitt ist ebenfalls ein Indikator für gutes Genmaterial. Die einzigen Abweichungen vom Durchschnitt, die Menschen allgemein attraktiv finden, sind diejenigen, die durch Sexualhormone bewirkt werden, was als positiv empfunden wird, weil das auf gute Reproduktionsfähigkeit hindeutet.
    Im Grunde ist Calliagnosie nichts weiter als die fehlende Reaktion auf solche Kriterien. Calliagnostiker sind nicht blind für Mode oder kulturelle Maßstäbe für Schönheit. Wenn schwarzer Lippenstift der letzte Schrei ist, dann wird man das mit Calliagnosie natürlich wahrnehmen. Man sieht dann nur nicht den Unterschied zwischen einem schönen und einem gewöhnlichen Gesicht, das diesen Lippenstift trägt. Und wenn jeder in der Umgebung über platte Nasen spottet, dann merkt man das natürlich auch.
    Calliagnosie an sich kann daher keine Diskriminierung verhindern, die auf dem Aussehen von Menschen beruht. In gewissem Sinne sorgt sie nur für ein bisschen mehr Gerechtigkeit, indem sie die angeborenen Vorurteile ausschaltet, die Tendenzen, die einer solchen Diskriminierung Vorschub leisten. Auf diese Weise steht man nicht von vornherein auf verlorenem Posten, wenn man die Menschen dazu bringen will, sich nicht vom Aussehen leiten zu lassen. Im Idealfall müsste man ein System schaffen, in dem alle Calliagnosie haben, und dann die Menschen so sozialisieren, dass das natürliche Aussehen keine Rolle mehr spielt.
    Tamera Lyons:
    Ich werde hier immer wieder gefragt, wie das in Saybrook war, wo alle Leute mit Calli aufwachsen. Ehrlich gesagt ist das nichts Besonderes, wenn man jung ist; Sie wissen schon, wie heißt es doch – das, womit man groß wird, erscheint einem immer normal. Wir wussten, es gab da etwas, das andere Leute sahen, das wir aber nicht sehen konnten; das war jedoch nur etwas, das einen neugierig macht, mehr nicht.
    Wir haben uns zum Beispiel Filme angeschaut und versucht zu erraten, wer gut aussah und wer nicht. Wir haben immer behauptet, wir könnten das unterscheiden, aber das konnten wir nicht, jedenfalls nicht durch das Betrachten der Gesichter. Wir haben uns danach gerichtet, wer der Held in dem Film war und wer der beste Freund; man wusste eben, dass die Hauptperson besser aussieht als der beste Freund. Das stimmt nicht in jedem Fall, aber meistens weiß man auch ziemlich schnell, ob das einer der Filme ist, in denen die Hauptperson nicht gut aussieht.
    Erst wenn man älter wird, wird das zu einem Problem. Wenn man mit Leuten aus anderen Schulen zusammen ist, kommt es schon mal vor, dass man sich komisch fühlt, weil man Calli hat und die nicht. Man spricht zwar nicht darüber, aber man hat doch im Hinterkopf, dass es da etwas gibt, das man nicht sehen kann. Und dann fängt man an, sich mit seinen Eltern zu streiten, weil die einen daran hindern, die wirkliche Welt zu sehen. Aber das bringt natürlich rein gar nichts.
    Richard Hamill, Begründer der Saybrook Schule:
    Saybrook war ein Ableger unserer Kommune. Wir waren damals ungefähr zwei Dutzend Familien, die alle versuchten, in einer Gemeinschaft mit gleichen Werten zu leben.
    Wir hatten ein Treffen, bei dem es darum ging, für unsere Kinder eine alternative Schule zu gründen, und jemand wies darauf hin, dass wir den Einfluss der Medien auf die Kinder einschränken müssten. Es war ein immer wiederkehrendes Problem, dass die Kinder im Teenageralter damit ankamen, dass sie sich operieren lassen wollten, um auszusehen wie ein Model. Die Eltern taten ihr Bestes, aber man kann seine Kinder nicht völlig von der Außenwelt abschotten; und wir leben nun einmal in einer Kultur, die besessen ist vom äußeren Erscheinungsbild.
    Ungefähr zu dieser Zeit wurden die letzten juristischen Fragen im Umgang mit Calliagnosie geklärt, und so wurde das zu einem Thema. Wir sahen Calliagnosie als Chance: Was, wenn man in einer Gemeinschaft leben könnte, in der die Menschen nicht

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