Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
dein Spex so darstellt, wie sie nach entsprechenden Schönheitsoperationen aussehen würden. In gewissen Kreisen wurde das zu einem beliebten Freizeitvergnügen, und viele unserer Studenten empfanden das als geschmacklos. Als die Leute anfingen, es als ein Symptom für ein tiefergreifendes gesellschaftliches Problem zu begreifen, sahen wir die Zeit gekommen, diese Kampagne zu unterstützen.
Das tiefergehende Problem unserer Gesellschaft ist Lookismus. Seit Jahrzehnten wird über Rassismus und Sexismus diskutiert, aber auch heute noch ist Lookismus ein Tabuthema. Dabei ist die Diskriminierung von als weniger attraktiv empfundenen Menschen weit verbreitet. Die Leute tun das, ohne dass es ihnen überhaupt beigebracht wird, und das ist an sich schon schlimm genug. Aber statt gegen diese Form der Diskriminierung vorzugehen, wird sie von der heutigen Gesellschaft sogar aktiv gefördert.
Den Menschen diesen Umstand bewusst zu machen und die Auseinandersetzung damit zu fördern, ist zwingend notwendig, aber es reicht nicht aus. Und da kommt die Wissenschaft ins Spiel. Stellen Sie sich Calliagnosie als eine Art Hilfestellung zu gesellschaftlicher Reife vor: Sie hilft Ihnen, das umzusetzen, was Ihnen kognitiv bereits bewusst ist: Sie ignorieren damit die Oberfläche und können tiefer blicken.
Wir denken, es ist an der Zeit, Calli zu gesellschaftlicher Akzeptanz zu verhelfen. Bisher war die Calli-Bewegung an den Universitäten kaum verbreitet und wurde nur von einer Minderheit propagiert. Aber Pembleton ist nicht irgendeine Universität, und ich glaube, die Leute hier sind bereit für Calli. Wenn unsere Initiative von Erfolg gekrönt wird, setzen wir damit ein Zeichen für andere Universitäten und schließlich für die Gesellschaft im Allgemeinen.
Joseph Weingartner, Neurologe:
Bei Calliagnosie handelt es sich um eine assoziative Agnosie im Gegensatz zu einer apperzeptiven. Das bedeutet, die visuellen Wahrnehmungen werden nicht beeinflusst, wohl aber die Fähigkeit, die Dinge, die man sieht, zuzuordnen. Jemand mit Calliagnosie erkennt Gesichter mühelos; er oder sie sieht den Unterschied zwischen einem spitzen oder einem fliehenden Kinn, zwischen einer geraden oder einer gebogenen Nase, reiner oder pickliger Haut. Diese Unterschiede führen bei ihm oder ihr jedoch nicht zu ästhetischen Wertungen.
Calliagnosie ist möglich, weil es im Gehirn spezifische neurale Reizleitungen gibt. Alle Tiere besitzen Kriterien, anhand deren sie das reproduktive Potenzial möglicher Geschlechtspartner beurteilen, und um diese Kriterien zu erkennen, haben sich spezifische neurale Muster herausgebildet. Soziale Interaktion beim Menschen funktioniert in erster Linie über das Gesicht, und so reagieren wir am stärksten darauf, wie sich die Reproduktionsfähigkeit eines Menschen in seinem Gesicht manifestiert. Wir erfahren diese Reaktion als das Gefühl, dass eine Person schön oder hässlich ist oder irgendetwas dazwischen. Mit Hilfe eines Inhibitors können wir die neuralen Verbindungen blockieren, die für diese Wertungen verantwortlich sind, und so Calliagnosie herbeiführen.
Angesichts der Tatsache, dass Moden so stark voneinander abweichen, wird immer wieder angezweifelt, dass man die Schönheit eines Gesichts anhand objektiver Kriterien bestimmen kann. Studien haben jedoch gezeigt, dass sich sehr eindeutige und immer gleiche Muster ergeben, wenn man Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen Fotografien von Gesichtern nach deren Attraktivität sortieren lässt. Bereits in sehr frühem Alter zeigen Kleinkinder die gleichen Vorlieben für bestimmte Gesichter. Damit lassen sich sehr wohl Charakteristika bestimmen, die als allgemeingültig für die Einschätzung eines Gesichts als attraktiv gelten können.
Das vielleicht offensichtlichste Charakteristikum ist eine reine Haut. Das entspricht in etwa dem leuchtenden Gefieder bei Vögeln oder dem glänzenden Fell bei Säugetieren. Reine Haut ist ein deutlicher Hinweis auf Jugend und Gesundheit und wird in jeder Kultur geschätzt. Akne ist vielleicht keine gefährliche Krankheit, aber sie zeigt die gleichen Symptome wie einige gefährliche Krankheiten, und daher empfinden wir Haut mit Akne als hässlich.
Ein weiteres Charakteristikum ist Symmetrie. Wir nehmen minimale Unterschiede zwischen der linken und der rechten Gesichtshälfte vielleicht nicht bewusst wahr, aber Messungen zeigen, dass Gesichter, die als besonders attraktiv empfunden werden, auch überdurchschnittlich symmetrisch sind.
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