Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
würden sie leuchten oder als wären sie heller oder so. Das lässt sich nur schwer beschreiben. Die Krankenschwester zeigte mir danach die Testergebnisse, und da gab es Messungen, wie sehr meine Pupillen sich weiteten und wie meine Haut Ströme leitete und solche Sachen. Und bei den Bildern, die anders wirkten, zeigten diese Messungen deutliche Ausschläge. Sie sagte, das seien die schönen Gesichter. Sie sagte auch, ich würde sofort bemerken, wie andere Gesichter aussehen, aber es würde einige Zeit dauern, bis ich bemerke, wie ich selbst aussehe. Wahrscheinlich ist man zu sehr an das eigene Gesicht gewöhnt, um einen Unterschied festzustellen.
Und ja, als ich danach das erste Mal in den Spiegel schaute, fand ich, dass ich genauso aussah wie immer. Seit ich vom Arzt zurück bin, sehen die Leute auf dem Campus ganz klar anders aus, aber bei meinem eigenen Aussehen ist mir noch kein Unterschied aufgefallen. Ich habe den ganzen Tag immer wieder in den Spiegel geschaut. Eine Zeitlang hatte ich Angst, ich sei hässlich, und diese Hässlichkeit würde jeden Augenblick zutage treten, so wie ein Ausschlag oder so etwas. Also habe ich immer wieder in den Spiegel gestarrt und gewartet, und nichts ist passiert. Ich denke also, dass ich wahrscheinlich nicht hässlich bin, sonst wäre mir das aufgefallen, aber ich bin wahrscheinlich auch nicht außergewöhnlich schön, denn das hätte ich auch bemerkt. Das heißt dann wohl, dass ich ganz gewöhnlich bin. Absoluter Durchschnitt. Ich denke, damit kann ich leben.
Joseph Weingartner:
Eine Agnosie wird durch die Simulation einer bestimmten Hirnschädigung induziert. Wir bewirken dies mit einem steuerbaren Medikament namens Neurostat. Stellen Sie sich Neurostat als hochgradig selektives Anästhetikum vor, dessen Aktivierung und Ausrichtung dynamisch kontrolliert wird. Wir aktivieren oder deaktivieren Neurostat, indem wir Signale durch einen Helm senden, den der Patient trägt. Der Helm sorgt auch für Lokalisierungsmarkierungen, damit die Neurostatmoleküle sich räumlich orientieren können. Auf diese Weise wird Neurostat nur in bestimmten Hirnarealen aktiviert und die neurale Aktivität in diesen Bereichen unter einer gewissen Schwelle gehalten.
Neurostat wurde ursprünglich zur Linderung chronischer Schmerzen und zur Krampfunterdrückung bei Epileptikern entwickelt. Damit können wir selbst schwerste Anfälle bei diesen Krankheiten behandeln, ohne dass es zu Nebenwirkungen kommt wie bei Medikamenten, die das ganze Nervensystem beeinträchtigen. Später wurden Neurostat-Anwendungen zur Therapie manisch-depressiver Krankheitsbilder, Sucht und ähnlicher Störungen entwickelt. Zur gleichen Zeit wurde Neurostat eines der wichtigsten Werkzeuge zur Erforschung der Hirnphysiologie.
Eine traditionelle Methode der Erforschung von Hirnfunktionen ist die Beobachtung der Einschränkungen durch bestimmte Läsionen. Offensichtlich ist diese Technik nur sehr begrenzt anwendbar, da Läsionen, die durch Unfälle oder Krankheiten hervorgerufen werden, häufig multiple Funktionsareale betreffen. Im Gegensatz dazu lässt sich Neurostat in genau definierten Hirnarealen aktivieren. Wir können damit Läsionen simulieren, die auf einem so engen Raum begrenzt sind, dass sie natürlich nie vorkommen würden. Und wenn man das Neurostat dann wieder deaktiviert, verschwindet diese »Läsion«, und der natürliche Zustand der Hirnfunktion ist wiederhergestellt.
Auf diese Weise ist es den Neurologen gelungen, ein sehr breites Spektrum von Agnosien künstlich hervorzurufen. Die in diesem Fall wichtigste ist Prosopagnosie, die Unfähigkeit, Menschen anhand ihrer Gesichter zu erkennen. Eine Person mit Prosopagnosie kann Freunde oder Familienmitglieder nur noch dann erkennen, wenn sie etwas sagen; der Proband erkennt das eigene Gesicht auf Fotografien nicht mehr. Es handelt sich dabei nicht um eine kognitive oder perzeptive Störung; Prosopagnostiker können Menschen anhand der Frisur, der Kleidung, des Parfüms oder auch des Gangs identifizieren. Die Fehlfunktion ist allein auf die Gesichtszüge beschränkt.
Prosopagnosie war das wichtigste Indiz dafür, dass unsere Gehirne über bestimmte Strukturen verfügen, die die visuellen Signale von Gesichtern auswerten. Wir betrachten Gesichter auf eine Weise, die sich von allen anderen optischen Wahrnehmungen unterscheidet. Das Erkennen von Gesichtern ist eine der Hirnfunktionen, die über die Auswertung rein visueller Signale hinausgehen. Es gibt auch neurale
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