Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
niemandem erzählt, dass meine Calli abgeschaltet ist, weil ich mich erst einmal selbst daran gewöhnen will. Wir gingen also in diese Snackbar auf der anderen Seite des Campus, in der ich noch nie war. Wir saßen an unserem Tisch und redeten, und ich sah mich um und schaute mir an, wie Menschen ohne Calli aussehen. Und dann sah ich dieses Mädchen, das mich anglotzte, und ich dachte: »Die sieht aber gut aus.« Und dann ( sie lacht ), das klingt jetzt wirklich blöd, aber dann bemerkte ich, dass diese Wand in der Bar ein Spiegel war und dass ich mich selbst angeschaut hatte!
Ich kann es nicht beschreiben, aber ich war so unglaublich erleichtert. Ich musste einfach die ganze Zeit lächeln! Ina fragte, warum ich so glücklich sei, und ich schüttelte nur den Kopf. Ich bin dann in den Waschraum gegangen, damit ich mich eine Zeitlang selbst im Spiegel betrachten konnte.
Es war also ein wirklich guter Tag. Mir gefällt, wie ich aussehe! Ein wirklich guter Tag.
Jeff Winthrop, 6. Semester, während einer Diskussion unter Studenten:
Natürlich ist es falsch, Menschen nach ihrem Aussehen zu beurteilen, aber diese »Blindheit« ist auch keine Lösung. Die Leute müssen einfach entsprechend erzogen werden.
Calli nimmt das Gute wie das Schlechte. Sie wirkt nicht nur, wenn die Möglichkeit einer Diskriminierung gegeben ist, sie verhindert das Erkennen von Schönheit generell. Es gibt viele Gelegenheiten, bei denen der Anblick eines schönen Gesichts niemandem schadet. Calli lässt die Beurteilung dieses Unterschieds nicht zu, eine vernünftige Erziehung dagegen schon.
Ich weiß, irgendwer wird jetzt einwenden: Was ist, wenn die Technik noch weiter fortgeschritten ist? Vielleicht wird es eines Tages möglich sein, ein ausgeklügeltes System in das Gehirn einzubauen; eines, das dann Überlegungen anstellt wie: »Ist das jetzt eine angemessene Situation, um Schönheit zu erfahren? Wenn ja, genieße sie; wenn nein, ignoriere sie.« Wäre das in Ordnung? Wäre das die »Hilfestellung zur gesellschaftlichen Reife«, von der jetzt überall geredet wird?
Nein, das wäre es nicht. Das wäre alles andere als reif, denn damit würde man seine Entscheidungen von einem Computerprogramm treffen lassen. Reife bedeutet, die Unterschiede zu sehen, aber zu begreifen, dass sie nicht von Bedeutung sind. Da gibt es keine technischen Abkürzungen.
Adesh Singh, 6. Semester, während einer Diskussion unter Studenten:
Niemand redet davon, dass ein Computerprogramm für uns Entscheidungen treffen soll. Der große Vorteil von Calli liegt gerade darin, dass sich dadurch nur sehr wenig ändert. Calli trifft keine Entscheidungen; sie hindert niemanden daran, etwas zu tun. Und was die Reife angeht, die beweist man schon dadurch, dass man sich für Calli entscheidet.
Jeder weiß, dass körperliche Schönheit nichts ist, das man sich verdient hat; diese Erkenntnis hat sich dank unserer Aufklärungsarbeit mittlerweile durchgesetzt. Aber trotz bester Absichten ist Lookismus noch eine allgegenwärtige Tatsache. Wir versuchen, nicht vorbelastet zu sein, wir wollen uns nicht durch das Aussehen einer Person beeinflussen lassen, aber wir können unsere angeborenen Instinkte nicht verleugnen, und jeder, der behauptet, dass er das kann, macht sich etwas vor. Stellt euch doch einmal selbst die Frage: Reagiert ihr nicht unterschiedlich, wenn ihr einem attraktiven Menschen gegenübersteht oder einem weniger attraktiven?
Jede Untersuchung auf diesem Gebiet kommt zu den gleichen Ergebnissen: Gutes Aussehen verleiht Menschen einen Vorteil. Wir können gar nicht anders; wir halten gutaussehende Menschen einfach für kompetenter, ehrlicher, verdienstvoller. Das stimmt zwar alles nicht, aber durch ihr Aussehen wird uns dieser Eindruck vermittelt.
Calli macht einen nicht blind; die Schönheit blendet. Calli lässt die Menschen sehen.
Tamera Lyons:
Also, ich habe mir jetzt ein paar gutaussehende Jungs auf dem Campus angesehen. Das macht Spaß. Es ist komisch, aber es macht Spaß. Ich war zum Beispiel vorgestern in der Cafeteria, und da sah ich diesen Jungen ein paar Tische weiter. Ich wusste nicht, wie er heißt, aber ich habe mich immer wieder umgedreht, um ihn anzuschauen. Ich kann nicht sagen, was an seinem Gesicht besonders war, es schien einfach nur bemerkenswerter als andere Gesichter. So, als sei sein Gesicht ein Magnet und meine Augen Kompassnadeln, die davon angezogen werden.
Und nachdem ich ihn eine Weile angeschaut hatte, war es ganz einfach, sich
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