Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Schaltungen, die für die Zuordnung der Mimik verantwortlich sind, und sogar solche, die es wahrnehmen, wenn jemand in eine andere Richtung blickt.
    Ein interessantes Charakteristikum von Prosopagnostikern ist die Tatsache, dass sie, auch wenn sie keine Gesichter mehr identifizieren können, trotzdem über ein Gefühl dafür verfügen, ob ein Gesicht attraktiv ist oder nicht. Wenn man ihnen die Aufgabe stellt, Photos von Gesichtern nach Attraktivität zu ordnen, dann sortieren Prosopagnosiker diese Bilder mehr oder weniger in der gleichen Reihenfolge wie alle anderen Menschen auch. Versuche mit Neurostat haben es den Forschern ermöglicht, die neuralen Verbindungen zu isolieren, die für die Beurteilung von Schönheit in Gesichtern zuständig sind, und damit haben sie dann im Wesentlichen die Calliagnosie erfunden.
    Maria deSouza:
    SAG hat in der Gesundheitsabteilung der Universität zusätzliche Neurostat-Helme aufstellen lassen und die Voraussetzungen geschaffen, damit wir jedem, der daran interessiert ist, zu Calliagnosie verhelfen können. Es ist nicht einmal eine Voranmeldung notwendig. Man kann jederzeit vorbeikommen. Wir ermutigen alle Studenten, dieses Angebot wenigstens für einen Tag auszuprobieren, um zu sehen, wie es ist. Anfangs ist es ein wenig ungewohnt, jemanden nicht automatisch als schön oder hässlich einzustufen, aber nach einiger Zeit stellt man dann fest, wie positiv sich das auf die Interaktion mit anderen Menschen auswirkt.
    Viele Menschen befürchten, durch Calli würden sie asexuell oder so etwas, aber in Wirklichkeit ist physische Schönheit nur zu einem geringen Teil für das verantwortlich, was einen Menschen attraktiv macht. Egal wie ein Mensch aussieht, es ist viel wichtiger, wie sich dieser Mensch verhält, was er sagt oder wie er es sagt; Verhalten und Körpersprache. Und wie reagiert dieser Mensch auf dich? Ein Mann wird für mich augenblicklich interessanter, wenn ich merke, dass er ein offenkundiges Interesse an mir hegt. Das ist wie bei einer Feedbackschleife; du bemerkst, dass er dich anschaut, dann sieht er, dass du den Blick erwiderst, und so gewinnt alles eine Eigendynamik. Daran ändert Calli nichts. Und außerdem spielen da ja noch die ganzen chemischen Faktoren wie zum Beispiel die Pheromone mit rein, die von Calli nicht beeinflusst werden.
    Eine andere Sorge, die Menschen immer wieder in Bezug auf Calli äußern, ist die Befürchtung, dass danach alle Gesichter gleich aussehen, aber auch das stimmt nicht. Die Persönlichkeit eines Menschen drückt sich immer in seinem Gesicht aus, und wenn überhaupt, wird das von Calli eher noch verstärkt. Sie kennen den Spruch: Nach einem gewissen Alter ist man für sein Gesicht selbst verantwortlich? Mit Calli lässt sich erst ermessen, wie viel Wahrheit darin liegt. Einige Gesichter wirken wirklich leer, vor allem junge, nach normalen Maßstäben gutaussehende. Wenn man die physische Schönheit wegnimmt, sind diese Gesichter nur noch langweilig. Aber Gesichter, hinter denen eine Persönlichkeit steckt, sehen auch mit Calli so gut aus wie zuvor, vielleicht sogar noch besser. Es ist, als ob man in ihnen mehr Substanz erkennt.
    Wir werden natürlich auch gefragt, ob die Einführung von Calli mit Sanktionen verbunden ist. Dergleichen ist nicht vorgesehen. Es gibt zwar Software, mit deren Hilfe sich ziemlich gut einschätzen lässt, ob eine Person Calli hat oder nicht, indem man die Augenmuster untersucht. Aber dazu wird eine solide Datenbasis benötigt, und die Sicherheitskameras auf dem Campus verfügen nicht über die entsprechende Auflösung. Jeder müsste seine persönliche Kamera tragen und die Daten weitergeben. Das wäre zwar möglich, aber das streben wir nicht an. Wir glauben, dass die Menschen die Vorteile, wenn sie Calli erst einmal ausprobieren, von selbst erkennen.
    Tamera Lyons:
    Was soll ich sagen? Ich sehe gut aus!
    Was für ein Tag. Als ich heute Morgen aufwachte, bin ich direkt zum Spiegel gegangen. Ich hab mich wirklich wie ein kleines Kind zu Weihnachten benommen, oder so. Aber trotzdem – nichts. Mein Gesicht sah immer noch gewöhnlich aus. Später habe ich sogar versucht ( sie lacht ), mich selbst zu überrumpeln, indem ich mich an den Spiegel angeschlichen habe, aber das hat auch nicht funktioniert. Ich war also ziemlich enttäuscht und hatte mich schon so ziemlich mit meinem Schicksal abgefunden.
    Aber dann war ich heute Nachmittag mit meiner Zimmergenossin Ina und ein paar anderen Mädchen unterwegs. Ich hatte