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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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ausgefülltes Leben geführt, argumentieren sie, und damals hätten wir schließlich auch keinen freien Willen gehabt. Wieso sollte sich jetzt irgendetwas ändern? »Was Sie im letzten Monat getan haben, war nicht selbstbestimmter als das, was Sie heute tun«, sagt ein Arzt möglicherweise. »Sie können sich weiter so verhalten wie früher.« Die Patienten antworten ohne Ausnahme: »Aber jetzt weiß ich es.« Und einige sagen danach nie wieder etwas.
    Manche werden einwenden, wenn der Prognostiker eine solche Verhaltensänderung bewirke, beweise das, dass wir eben doch einen freien Willen hätten. Ein Automat könne nicht den Mut verlieren; nur ein denkendes, bewusstes Wesen sei dazu fähig. Dass manche Individuen in akinetischen Mutismus verfielen und andere nicht, zeige nur, wie wichtig es sei, Entscheidungen zu treffen.
    Leider ist diese Argumentation fehlerhaft: Jedes beliebige Verhalten ist mit dem Determinismus vereinbar. Das eine dynamische System mag in ein Attraktionsbasin fallen und schließlich an einem bestimmten Punkt enden, ein anderes ohne absehbares Ende chaotisches Verhalten zeigen, und doch sind beide vollkommen deterministisch.
    Ich sende diese Warnung aus einer Zeit, die von Ihnen aus gesehen gut ein Jahr in der Zukunft liegt. Es ist die erste längere Nachricht mittels Schaltkreisen, die über eine negative Verzögerung von Megasekunden verfügen. Weitere Botschaften werden folgen, in denen es um andere Probleme gehen wird.
    Mein Rat an Sie lautet: Tun Sie so, als würde der freie Wille existieren. Es ist unbedingt notwendig, dass Sie sich so verhalten, als wären Ihre Entscheidungen von Bedeutung, auch wenn Sie wissen, dass das nicht wahr ist. Die Realität ist unerheblich; was zählt, ist Ihr Glaube, und der Glaube an die Lüge ist die einzige Möglichkeit, dem Wachkoma zu entgehen. Der Fortbestand der menschlichen Zivilisation hängt von nun an von der Selbsttäuschung ab. Vielleicht war das ohnehin nie anders.
    Und doch weiß ich natürlich, dass vorherbestimmt ist, wer in akinetischen Mutismus verfallen wird und wer nicht – denn schließlich ist der freie Wille eine Illusion. Niemand kann etwas dagegen tun – keiner kann es sich aussuchen, welche Wirkung der Prognostiker auf ihn haben wird. Einige von Ihnen werden ihr erliegen und andere nicht, und dass ich Ihnen diese Warnung sende, wird nichts daran ändern. Wieso also habe ich es getan?
    Weil mir nichts anderes übrig bleibt.

Der Lebenszyklus von Softwareobjekten

1
    Ihr Name ist Ana Alvarado, und heute hat sie einen schlechten Tag. Die ganze Woche hat sie sich auf ein Bewerbungsgespräch vorbereitet, seit Monaten das erste, bei dem sie es wenigstens bis zu einer Videokonferenz gebracht hat. Aber das Gesicht des Personalvermittlers war kaum auf dem Bildschirm erschienen, als er ihr auch schon mitteilte, dass die Firma sich für jemand anderen entschieden hat. Da sitzt sie nun vor ihrem Computer und hat ihr Kostüm ganz umsonst angezogen. Halbherzig verschickt sie Anfragen an andere Firmen und erhält umgehend automatische Absagen. Nachdem sie so eine Stunde zugebracht hat, beschließt Ana, dass sie ein bisschen Abwechslung braucht: Sie öffnet ein Fenster von Dimension IV, um ihr Lieblingsspiel zu spielen, »Age of Iridium«.
    Der Brückenkopf ist überfüllt, aber ihr Avatar trägt die begehrte Perlmuttrüstung, und schon bald wird sie von ein paar Spielern gefragt, ob sie sich ihrem Team anschließen möchte. Sie durchqueren das Kampfgebiet, über dem der Rauch brennender Fahrzeuge hängt, und eine Stunde lang sind sie damit beschäftigt, eine Festung von Gottesanbeterinnen zu befreien. Für Anas Stimmung ist das die perfekte Mission – so leicht, dass der Sieg ihr sicher ist, aber im Schwierigkeitsgrad dennoch befriedigend. Gerade wollen ihre Mitspieler mit einer weiteren Mission beginnen, als in einer Bildschirmecke ein Fenster aufgeht. Es ist ein Anruf ihrer Freundin Robyn, daher schaltet Ana ihr Mikrofon um.
    »Hey, Robyn.«
    »Hi, Ana. Wie geht’s?«
    »Ich geb dir einen Tipp: Ich spiele gerade AoI.«
    Robyn lächelt. »Schlechten Vormittag gehabt?«
    »Könnte man so sagen.« Ana erzählt ihr von dem abgesagten Vorstellungstermin.
    »Nun, ich hab Neuigkeiten, die dich vielleicht aufheitern werden. Können wir uns auf Erde 2 treffen?«
    »Klar, warte nur kurz, bis ich ausgeloggt bin.«
    »Ich bin dann bei mir zu Hause.«
    »Okay, bis gleich.« Ana entschuldigt sich bei ihrem Team und schließt ihr Dimension IV -Fenster. Sie

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