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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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mit Calli aufgezogen haben. Ich finde immer noch, dass das falsch war. Sie dachten, wenn man die Schönheit abschafft, dann entsteht eine bessere Gesellschaft, und das glaube ich nicht. Schönheit ist nicht das Problem. Das Problem liegt darin, wie einige Menschen Schönheit missbrauchen. Und da ist Calli gut; sie hilft einem, sich davor zu schützen. Ich weiß nicht, vielleicht war das noch kein Problem, als meine Eltern jung waren. Aber heutzutage müssen wir uns damit auseinandersetzen.

Was von uns erwartet wird

Sie stehen vor einer schweren Entscheidung …
    Warnung. Diesen Text bitte aufmerksam lesen.
    Inzwischen haben Sie vermutlich einen Prognostiker zu Gesicht bekommen – wenn Sie das hier lesen, wird man bereits Millionen von ihnen verkauft haben. Aber falls nicht: Es handelt sich um ein kleines Gerät, das in etwa wie die Fernentriegelung Ihres Autos aussieht. Eigentlich besteht es lediglich aus einem Knopf und einer großen grünen LED. Wenn man auf den Knopf drückt, blinkt das Lämpchen auf. Genauer gesagt: Das Licht blinkt eine Sekunde, bevor man den Knopf drückt.
    Nach Aussage der meisten Leute fühlt sich das anfangs wie ein seltsames Spiel an, ein Spiel, bei dem man nach dem Blinken den Knopf drücken muss – im Grunde kinderleicht. Versucht man aber, diese Regel zu umgehen, merkt man, dass das nicht möglich ist. Will man den Knopf drücken, bevor man ein Licht gesehen hat, leuchtet das Lämpchen auf, und wie sehr man sich auch beeilt, man drückt den Knopf immer erst eine Sekunde später. Wartet man einfach ab und nimmt sich vor, den Knopf nach einem Blinken nicht zu drücken, bleibt das Lämpchen dunkel. Egal, was man tut, immer leuchtet die LED schon vor dem Drücken auf. Man kann einen Prognostiker nicht überlisten.
    Das Herz jedes Prognostikers ist ein Schaltkreis mit einer negativen Zeitverzögerung – diese schickt ein Signal in die Zeit zurück. Wie bedeutsam diese Technik wirklich ist, wird man erst sehen, wenn Verzögerungen von mehr als einer Sekunde erreicht werden, aber darum geht es bei dieser Warnung nicht. Wichtig ist hier Folgendes: Prognostiker führen uns vor Augen, dass es so etwas wie den freien Willen nicht gibt.
    Es sprach schon immer vieles dafür, dass der freie Wille eine Illusion ist. Einige Argumente basierten auf physikalischen Tatsachen, andere auf reiner Logik. Die meisten Leute geben zu, dass man dem nichts entgegensetzen kann, aber niemand akzeptiert je wirklich die Schlussfolgerung daraus. Die eigene Erfahrung des freien Willens wiegt zu schwer, als dass sie sich von bloßen Argumenten außer Kraft setzen ließe. Man muss die Wahrheit selbst erlebt haben, und genau diese Erfahrung verschafft einem der Prognostiker.
    Typischerweise spielt ein Mensch tagelang wie besessen mit dem Prognostiker, führt ihn Freunden vor und probiert alles Mögliche aus, um das Gerät auszutricksen. Und auch wenn irgendwann das Interesse scheinbar erlischt, gelingt es niemandem zu vergessen, was dieses Gerät impliziert – während der folgenden Wochen setzt langsam die Erkenntnis ein, was die Unveränderlichkeit der Zukunft bedeutet. Nachdem sie begriffen haben, dass ihr Wille keine Rolle spielt, wollen manche Menschen gar keine Entscheidungen mehr treffen. Wie Heerscharen von Bartleby dem Schreiber hören sie auf, überhaupt etwas zu tun. Am Schluss muss ein Drittel der Menschen, die mit einem Prognostiker spielen, in eine Klinik eingewiesen werden, weil sie nicht mehr essen. Das Endstadium ist der akinetische Mutismus, eine Art Wachkoma. Die Patienten folgen Bewegungen noch mit den Augen und ändern gelegentlich die Körperhaltung, aber sonst tun sie nichts mehr. Die Fähigkeit zur Bewegung ist zwar noch vorhanden, doch die Motivation dazu ist verschwunden.
    Bevor die Leute mit Prognostikern zu spielen begannen, war akinetischer Mutismus sehr selten und stets das Ergebnis einer Schädigung des singulären Kortex. Inzwischen verbreitet er sich wie eine kognitive Seuche. Früher hat man über Gedanken, die den Denkenden vernichten, spekuliert, über unaussprechliche Schrecken aus dem Reich Lovecrafts oder einen Satz von Gödel, der die menschliche Logik zerstört. Nun zeigt es sich, dass wir den wahren tödlichen Gedanken schon lange kennen: die Vorstellung, dass der freie Wille nicht existiert. Er war nur ungefährlich, solange niemand an ihn glaubte.
    Die Ärzte versuchen, mit den Patienten zu reden, während sie noch ansprechbar sind. Wir alle hätten früher ein glückliches,

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