Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
loggt sich auf Erde 2 ein, und das Fenster zoomt zu ihrem letzten Aufenthaltsort, einem Klub, der in eine gewaltige Klippenwand hineingehauen ist. Erde 2 hat spezielle Kontinente für Spieler – Elderthorn, Orbis Tertius –, doch sie sind nicht nach Anas Geschmack, daher verbringt sie ihre Zeit auf den Kontinenten für soziale Kontakte. Von ihrem letzten Besuch ist ihr Avatar noch für eine Party gekleidet; sie zieht etwas Unauffälligeres an und öffnet dann ein Portal zu Robyns Zuhause. Ein Schritt hindurch, und sie befindet sich in Robyns virtuellem Wohnzimmer in einem Wohnballon, der eine Meile entfernt über einem halbkreisförmigen Wasserfall schwebt.
Ihre Avatare umarmen sich. »Worum geht’s?«, fragt Ana.
»Um Blue Gamma«, erwidert Robyn. »Wir haben neue Zuschüsse bekommen, deshalb stellen wir Leute ein. Ich habe deinen Lebenslauf herumgeschickt, und alle wollen dich unbedingt kennenlernen.«
»Mich? Du meinst, weil ich so viel Erfahrung habe?« Ana hat gerade erst ihr Zertifikat als Softwareprüferin gemacht. Robyn hat ein Anfängerseminar geleitet, und dort haben sie sich kennengelernt.
»Genau deshalb. Deine letzte Arbeitsstelle hat ihr Interesse geweckt.«
Ana hat sechs Jahre lang in einem Zoo gearbeitet; nur weil er geschlossen wurde, hat sie noch einmal studiert. »Ich weiß ja, dass es bei einer Unternehmensgründung drunter und drüber geht, aber ihr braucht doch bestimmt keine Tierpflegerin.«
Robyn lacht. »Schau dir erst mal an, woran wir arbeiten. Man hat mir gesagt, du darfst einen Blick darauf werfen, vorausgesetzt, du verpflichtest dich zu Verschwiegenheit.«
Das ist ungewöhnlich. Bisher durfte Robyn keine Einzelheiten über ihre Arbeit bei Blue Gamma preisgeben. Ana unterschreibt die Verschwiegenheitserklärung, und Robyn öffnet ein Portal. »Wir haben eine eigene Insel, schau es dir mal an.« Sie lassen ihre Avatare hindurchgehen.
Als das Fenster neu lädt, erwartet Ana halb, eine Phantasielandschaft zu sehen, doch stattdessen erscheint ihr Avatar in einer Einrichtung, die auf den ersten Blick wie eine Kindertagesstätte aussieht. Auf den zweiten wirkt sie wie eine Szene aus einem Bilderbuch: Ein kleines Tigerjunges mit menschenähnlichen Zügen schiebt bunte Holzkugeln auf einem Drahtgestell hin und her; ein Pandabär begutachtet ein Spielzeugauto; die Comicversion eines Schimpansen lässt einen Gummiball rollen.
Die Bildunterschriften identifizieren sie als Digis, empfindungsfähige digitale Organismen, die in einer Umgebung wie Erde 2 leben; aber sie sehen anders aus als alle Digis, die Ana je zuvor gesehen hat. Das hier sind nicht die idealisierten Haustiere für Leute, die sich kein echtes Tier anschaffen wollen. Ihnen fehlt die abziehbildähnliche Perfektion, und ihre Bewegungen sind zu eigenartig. Sie sehen auch nicht wie Bewohner der Biome auf Erde 2 aus: Ana war schon auf dem Pangäa-Archipel, sie hat die einbeinigen Kängurus und die zweiköpfigen Schlangen gesehen, die man dort in den Klimahäusern hält, und diese Digis stammen ganz offensichtlich nicht von dort.
»Das macht Blue Gamma also? Digis?«
»Ja, aber keine gewöhnlichen Digis. Schau dir mal das hier an.« Robyns Avatar geht zu dem Schimpansen mit dem Ball und hockt sich vor ihn hin. »Hallo, Pongo. Was machst du da?«
»Pongo piel Ball«, sagt das Digi zu Anas Verblüffung.
»Du spielst Ball? Das ist ja toll. Darf ich mitspielen?«
»Nein. Pongo Ball.«
»Bitte, Pongo.«
Der Schimpanse sieht sich um und wackelt dann zu einem Haufen Bauklötzen aus Holz hinüber. Es schiebt einen davon in Robyns Richtung. »Robyn piel Baukötze.« Er setzt sich wieder hin. »Pongo piel Ball.«
»Na gut.« Robyn geht wieder zurück zu Ana. »Was sagst du dazu?«
»Das ist unglaublich. Ich wusste gar nicht, dass die Digis schon so weit sind.«
»Das ist alles noch ziemlich neu; letztes Jahr hat unsere Entwicklungsabteilung ein paar junge Wissenschaftler eingestellt, nachdem wir auf einer Konferenz ihre Präsentation gesehen hatten. Inzwischen haben wir eine Genom-Engine, die wir ›Neuroblast‹ nennen, und die ermöglicht eine höhere kognitive Entwicklung als alles, was es bis jetzt gibt. Die Kleinen hier« – sie deutet auf die Bewohner der Krippe – »sind die intelligentesten, die wir bis jetzt hervorgebracht haben.«
»Und ihr wollt sie als Haustiere verkaufen?«
»Genau das haben wir vor. Wir wollen sie als Haustiere bewerben, mit denen man reden und denen man richtig coole Sachen beibringen kann. In
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