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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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niedlich, was Dereks Sache ist. Aber er darf den Digis nicht einfach nur riesige Augen und kurze Nasen verpassen. Wenn sie aussehen wie Zeichentrickfiguren, wird niemand sie jemals ernst nehmen. Ähneln sie dagegen zu stark lebendigen Tieren, wirkt es verstörend, dass sie eine Mimik und die Fähigkeit besitzen zu sprechen. Es ist eine Gratwanderung; Derek hat unzählige Stunden damit verbracht, sich entsprechende Aufnahmen von Tierkindern anzuschauen, und es ist ihm gelungen, so etwas wie Zwittergesichter zu entwerfen, die liebenswert, aber nicht übertrieben kitschig aussehen.
    Seine jetzige Aufgabe ist ein wenig anders. Da ihnen Hunde, Katzen, Affen und Pandas nicht genug waren, haben die Produktmanager entschieden, dass es bei den Avataren mehr Auswahl geben muss, und zwar etwas anderes als Tierkinder. Sie schlagen Roboter vor.
    In Dereks Augen ist die Idee unsinnig. Blue Gammas gesamte Strategie beruht auf der Anziehung, die Tiere auf Menschen ausüben. Genau wie Tiere lernen die Digis durch positive Verstärkung; zu ihren Belohnungen gehören Interaktionen wie virtuelle Leckerbissen oder ein Kraulen über den Kopf. Bei einem Tieravatar ist so etwas ganz natürlich, aber bei einem Roboteravatar wirkt es künstlich und absurd. Ginge es hier um den Verkauf von materiellem Spielzeug, hätten Roboter den Vorteil, in der Herstellung günstiger als realistisch wirkende Tiere zu sein, aber im virtuellen Bereich spielen Produktionskosten keine Rolle, und Tiergesichter sind viel ausdrucksvoller. Roboteravatare anzubieten, ist so ähnlich, als würde man neben dem echten Produkt eine Imitation verkaufen.
    Ein Klopfen an der Tür reißt ihn aus seinen Gedanken. Es ist Ana, die neuerdings zum Team der Softwaretester gehört.
    »Hey Derek, du musst dir mal das Video vom Training heute Morgen anschauen. Es war ziemlich lustig.«
    »Danke, ich schau’s mir an.«
    Sie will gehen, bleibt dann aber stehen. »Du siehst aus, als hättest du einen miesen Tag.«
    Nach Dereks Ansicht war es eine gute Idee, eine ehemalige Tierpflegerin einzustellen. Sie hat nicht nur ein Trainingsprogramm für die Digis erarbeitet, sondern auch einen tollen Vorschlag zur Verbesserung des Futters gemacht.
    Andere Digi-Hersteller bieten eine beschränkte Auswahl von Digifutter an, doch Ana hat angeregt, Blue Gamma solle beim Digifutter ganz neue Formen kreieren; sie hat darauf hingewiesen, dass Zootiere bei einer abwechslungsreichen Ernährung zufriedener seien und die Besucher dadurch mehr Spaß an der Fütterung hätten. Die Geschäftsführung war einverstanden, und das Entwicklerteam hat das primäre Belohnungssystem der Digis angepasst, sodass sie nun eine größere Bandbreite an virtuellem Futter erkennen; man konnte zwar nicht tatsächlich verschiedene chemische Komponenten simulieren – die Simulation von Erde 2 ist dafür in physikalischer Hinsicht bei Weitem nicht gut genug –, aber sie haben Parameter hinzugefügt, die für eine bestimmte Textur und den Geschmack einer Futtersorte stehen, und bei der Software für die Futterausgabe haben sie eine Schnittstelle eingefügt, mit der die User ihre eigenen Rezepte erstellen können. Das war ein riesiger Erfolg; die verschiedenen Digis haben ihre Lieblingssorten, und die Beta-Tester berichten, sie hätten viel Spaß daran, auf die Vorlieben ihrer Digis einzugehen.
    »Das Management hat entschieden, dass Tieravatare nicht genug sind«, sagt Derek. »Sie wollen jetzt auch Roboteravatare. Ist das zu fassen?«
    »Hört sich doch gut an«, meint Ana.
    Er ist überrascht. »Meinst du wirklich? Ich hätte gedacht, dass dir die Tieravatare lieber sind.«
    »Hier betrachten alle die Digis als Tiere«, sagt sie. »Das Problem ist nur, die Digis verhalten sich anders als jedes Tier. Sie haben etwas an sich, wodurch sie ganz anders wirken als Tiere. Wenn wir sie wie Affen oder Pandas aussehen lassen, ist das dasselbe, als würden wir sie in Zirkuskostüme stecken.«
    Dass sie seine Avatare, denen er so viel Sorgfalt und Hingabe gewidmet hat, mit Zirkuskostümen vergleicht, tut weh. Wahrscheinlich sieht man das seinem Gesicht an, denn sie fügt hinzu: »Einem normalen Menschen würde das wohl gar nicht auffallen. Ich habe nur einfach mehr Zeit mit Tieren verbracht als die meisten Menschen.«
    »Schon okay«, sagt er. »Ich höre mir immer gern andere Meinungen an.«
    »Entschuldige. Ehrlich, die Avatare sehen toll aus. Das Tigerjunge gefällt mir besonders gut.«
    »Ist schon gut. Wirklich.«
    Sie macht eine

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