Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
entschuldigende Geste und geht, während Derek über das nachdenkt, was sie gesagt hat.
Vielleicht hat er sich zu sehr auf die Tieravatare konzentriert, so sehr, dass er in den Digis inzwischen etwas sieht, was sie gar nicht sind. Ana hat natürlich recht damit, dass die Digis weder Tiere noch traditionelle Roboter sind, aber wer kann schon sagen, welche der Analogien besser passt? Wenn er davon ausgeht, dass eine neue Lebensform sich als Roboter genauso gut ausdrücken kann wie als Tier, wird ihm vielleicht ein Avatar gelingen, mit dem er wirklich zufrieden ist.
Ein Jahr ist vergangen, und Blue Gamma steht wenige Tage vor der großen Produkteinführung. Ana sitzt in ihrem Abteil des Großraumbüros, nur ein Gang trennt sie von Robyn; sie haben einander den Rücken zugekehrt, blicken aber auf ihren Bildschirmen im Moment auf die gleiche Umgebung in Erde 2 , wo ihre Avatare nebeneinanderstehen. In der Nähe wuselt ein Dutzend Digis über einen Spielplatz, sie jagen einander über eine winzige Brücke und darunter hindurch, klettern auf eine kleine Rutsche und schlittern hinunter. Diese Digis sind die Kandidaten für den Verkauf; in ein paar Tagen werden sie – oder ganz ähnliche Versionen – überall in den sich überschneidenden Reichen der wirklichen Welt und Erde 2 erhältlich sein.
Anstatt den Digis zu diesem späten Zeitpunkt noch neue Verhaltensweisen beizubringen, sollen Ana und Robyn mit ihnen das üben, was sie bereits gelernt haben. Sie sind gerade mitten in einer Übungseinheit, als Mahesh, einer der Gründer von Blue Gamma, an ihren Arbeitsplätzen vorbeikommt. Er bleibt stehen und schaut zu. »Beachten Sie mich gar nicht, machen Sie einfach weiter. Was steht heute an?«
»Formerkennung«, sagt Robyn. Vor ihrem Avatar instanziiert sie ein paar über den Boden verstreute bunte Klötze. Zu einem der Digis sagt sie: »Komm her, Lolly.« Vom Spielplatz kommt ein Löwenjunges herübergetapst.
Währenddessen ruft Ana Jax zu sich, dessen Avatar ein neoviktorianischer Roboter aus glänzendem Kupfer ist. Derek hat hier großartige Arbeit geleistet, von den Proportionen der Beine bis hin zu seiner Gesichtsform; Ana findet Jax einfach süß. Auch sie instanziiert ein paar verschieden geformte bunte Klötze und macht Jax darauf aufmerksam.
»Siehst du die Klötze, Jax? Welche Form hat der blaue?«
»Dei-eck«, sagte Jax.
»Gut. Welche Form hat der rote?«
»Quat.«
»Gut, welche Form hat der grüne?«
»Keis.«
»Gut gemacht, Jax.« Ana gibt ihm ein Futterpellet, das er begeistert verschlingt.
»Jax kug«, sagt Jax.
»Lolly auch kug«, meldet sich Lolly.
Ana lächelt und tätschelt ihnen die Köpfe. »Ja, ihr seid beide sehr klug.«
»Beide kug«, sagt Jax.
»So gefällt mir das«, sagt Mahesh.
Die Verkaufskandidaten sind in zahllosen Tests herausgefiltert worden, hinsichtlich ihrer Lernfähigkeit sind sie die Besten der Besten. Zum Teil haben die Techniker dabei Intelligenz angestrebt, doch ebenso sehr ein bestimmtes Naturell, einen Persönlichkeitstyp, der die Kunden nicht frustrieren wird. Unter anderem gehört dazu die Fähigkeit, mit anderen gut auszukommen. Das Entwicklerteam hat sich bemüht, hierarchische Verhaltensweisen bei den Digis abzuschwächen – Blue Gamma will ein Haustier verkaufen, bei dem der Besitzer nicht ständig seine Überlegenheit geltend machen muss –, aber das bedeutet nicht, dass Konkurrenzkämpfe nicht vorkommen. Die Digis lieben Aufmerksamkeit, und wenn eines merkt, dass Ana ein anderes lobt, drängt es sich in den Vordergrund. Meistens ist das nicht weiter schlimm, aber wenn ein Digi besonders wütend auf seine Kameraden oder auf Ana geworden ist, hat sie es markiert, und sein Genom ist nicht in die nächste Generation eingeflossen. Ein bisschen war das wie Hundezucht, aber noch mehr wie die Arbeit in einer riesigen Testküche, wo ein Blech Brownies nach dem anderen gebacken und jedes auf Schmackhaftigkeit hin getestet wird, um das perfekte Rezept zu finden.
Die jetzigen Instanzen der Verkaufskandidaten werden als Maskottchen hierbleiben, und man wird Kopien von ihnen verkaufen, aber es wird allgemein erwartet, dass die meisten Leute jüngere Digis erstehen, die noch nicht sprechen können. Dem eigenen Digi das Sprechen beizubringen ist das halbe Vergnügen; die Maskottchen sollen in erster Linie einen Vorgeschmack auf die zu erwartenden Ergebnisse liefern. Verkauft man Digis ohne Sprachkenntnisse, kann man sie auch in den nicht englischsprachigen Ländern
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