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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Schrei, der anschwoll und wieder verstummte, während er zu seiner Macht gelangte.
    Er drehte sich um. Die Greisin hatte sich erhoben. Ihre Augen waren strahlend blau, ihr Gewand war weiß, ihr Haar war weiß wie Schnee, ihre Finger lang und schlank. Ihre Zähne waren weiß, ihre Lippen waren rot, ein rötlicher Hauch lag auf ihren Wangen, und er erkannte daran ihre Sehnsucht.
    Er gestand ihr: »Ich trage in mir ein Verlangen.«
    Sie lachte. Ein sanftes Lachen, bewundernd, zärtlich, das Lachen einer Mutter über der Wiege ihres Sohnes.
    »Geliebter«, sagte sie. »Oh, sei mir willkommen ein zweites Mal, Liadon. Geliebter Sohn, Maidaladan. Sie wird dich lieben, sie wird dich lieben, das wird sie.« Und die Priesterin der Schwelle, immer noch uralt, aber keine alte Vettel mehr, legte ihm die Finger auf die immer noch blutende Wunde, und er spürte, wie sich unter ihrer Berührung die Haut schloss und die Blutung aufhörte.
    Dann erhob sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn mitten auf den Mund. Verlangen brach über ihn herein wie eine Welle im Sturmwind. Sie erklärte: »Zwölfhundert Jahre sind vergangen, seit ich mir meinen Anteil an einem Opfer genommen habe, das aus freien Stücken dargebracht wurde.« Sie hatte Tränen in den Augen.
    »Geh jetzt«, fuhr sie fort. »Bald ist Mitternacht, Liadon. Du weißt, wohin du dich wenden musst; du erinnerst dich. Gieße die Schale aus und das Verlangen in dir, Geliebter. Sie wird dort sein. Um deinetwillen wird sie so rasch herbeieilen wie damals, als der erste aller Eber den ersten all ihrer Liebhaber gezeichnet hat.« Noch während sie sprach, entkleidete sie ihn mit ihren langen Fingern.
    Verlangen, Kraft, Wellenkamm. Er war die Macht, die hinter der Welle stand und hinter dem Schaum, wo sie sich brach. Wortlos drehte er sich um, denn er wusste den Weg, und als er das weite Gewölbe durchquerte, in der Hand sein eigenes Blut in einer steinernen Schale, gelangte er ans andere Ende. An den eigentlichen Rand des Abgrunds.
    Nackt wie im Mutterschoß stand er über den Abgrund gebeugt. Und als er diesmal innehielt, ließ er seine Gedanken nicht zurückschweifen zu den verlorenen Dingen der Vergangenheit, sondern wandte sich statt dessen voll und ganz dem einen Verlangen zu, das er in sich trug, dem einen Geschenk, um das er sie als Entschädigung ersuchte, und er goss die randvolle Schale seines Blutes in den dunklen Abgrund, um Dana in der Mittsommernacht aus den Tiefen heraufzubeschwören.
    Im Gewölbe hinter ihm hörte das Glühen gänzlich auf. Inmitten der absoluten Schwärze wartete er, und in ihm war soviel Macht, soviel Verlangen. Das Verlangen all seiner Tage wurde hier auf einen Punkt konzentriert, auf diesen Punkt, richtete sich auf diesen Spalt. Dun Maura. Maidaladan. Sein Name. Das Verlangen, das er in sich trug. Der Eber. Das Blut. Der Hund draußen im Schnee. Der Vollmond. Sämtliche Nächte, alles Versinken in sämtlichen Liebesnächten. Und jetzt.
    Und jetzt war sie gekommen, und das war mehr als alles, was er je erlebt hatte, mehr als alles. Sie war gekommen, und sie war da für ihn, dort in der Dunkelheit, über dem Abgrund schwebend mitten in der Luft, so nackt wie er.
    »Liadon«, flüsterte sie, und das heisere Verlangen in ihrer Stimme setzte ihn in Brand, und dann hob sie, als wolle sie den Augenblick krönen und ihm Gestalt verleihen, denn sie liebte ihn und würde ihn immer lieben, dann hob sie noch einmal zu flüstern an und sagte:
    »Kevin«, und dann: »Oh, komm doch!«
    Und er sprang.
    Sie war da, und ihre Arme legten sich in der alles verhüllenden Dunkelheit um ihn, ihre Beine schlangen sich um die seinen, ihr Mund. Kevin streckte die Hand aus und berührte ihre Brüste. Er streichelte ihre Hüften, ihre Schenkel, fühlte, wie sie sich unter seiner Berührung öffnete wie eine Knospe, empfand sich selbst, wild und zügellos, drang in sie ein. Sie stürzten hinab, es gab kein Licht, es gab keine Wände, ihr Mund gab leise Geräusche von sich, während sie ihn küsste, er stieß zu und hörte sie aufstöhnen, er vernahm seinen eigenen rauen Atem, fühlte, wie der Sturm sich zusammenbraute, die Macht, wusste, dies war das Ziel seines Daseins, hörte Dana seinen Namen aussprechen, alle seine Namen in allen Welten, fühlte sich explodieren, tief hinein in sie mit dem Feuer seines Samens. Mit der ihr eigenen verklärten Ekstase entflammte sie aufs Neue, und im Lichte ihres Verlangens sah er die Erde von unten her auf sich zukommen, um ihn

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