Das wandernde Feuer
Durch einen der Risse sah er ihre schlaff herabhängenden, verkümmerten Brüste.
Langsam und mit äußerster Hochachtung verneigte Kevin sich vor ihr, der Hüterin der Schwelle dieses Ortes. Sie lachte immer noch, als er sich aufrichtete, und Speichel rann ihr über das Kinn.
»Es ist Maidaladan heute Nacht«, sprach er sie an.
Nach und nach beruhigte sie sich wieder und blickte von dem anderen Steinsitz zu ihm auf, und ihr Rücken war so krumm, dass sie sich seitwärts den Hals verrenken musste, um das zu bewerkstelligen. »So ist es«, bestätigte sie. »Die Nacht des geliebten Sohnes. Es ist siebenhundert Jahre her, seit das letzte Mal ein Mann zur Mittsommernacht vorbeigekommen ist.« Sie deutete mit einer ihrer Stricknadeln, und Kevin sah neben ihr zu Boden und erblickte zerfallene Knochen und einen Schädel.
»Ich habe ihn nicht vorbeigelassen«, raunte die Alte und lachte.
Er schluckte und kämpfte gegen seine Angst an. »Wie lange«, stammelte er, »wie lange bist du schon hier?«
»Narr !« schrie sie, so laut, dass er auffuhr . NarrNarrNarrNarr hallte es durch das Gewölbe, und hoch droben hörte er die Fledermäuse. »Glaubst du etwa, ich sei lebendig?«
Lebendiglebendiglebendiglebendig , schallte es, und dann vernahm er nur noch seine eigenen Atemzüge. Er sah zu, wie die Vettel ihr Strickzeug neben den Knochen zu ihren Füßen ablegte. Als sie wieder zu ihm hochblickte, hatte sie nur noch eine Nadel in der Hand, lang und spitz und dunkel, und sie war auf sein Herz gerichtet. Sie sang, deutlich, aber so leise, dass es kein Echo gab:
Hell dein Haar und hell dein Blut,
Rot und gelb sie für die Mutter scheinen.
Sage mir deinen Namen, Liebster,
Den wahren Namen und sonst keinen.
In jenem Moment, bevor er ihr antwortete, blieb Kevin Laine Zeit, sich an vieles zu erinnern, an manches mit Kummer und an manches voller Liebe. Er richtete sich hoch vor ihr auf, er war erfüllt von Kraft, vom Aufwallen des Verlangens, auch er konnte das Echo veranlassen, durch Dun Maura zu hallen:
» Liadon !« rief er, und inmitten des Widerhalls, inmitten der knospenden Kraft in seinem Innern spürte er einen Hauch, eine Berührung wie vom Wind auf seinem Gesicht.
Langsam ließ die Alte ihre Nadel sinken.
»Du sprichst die Wahrheit«, raunte sie. »Tritt ein.«
Er rührte sich nicht. Sein Herz klopfte jetzt sehr schnell, wenn auch nicht aus Furcht, aus einem anderen Grund. »Ich trage ein Verlangen in mir«, bekannte er.
»Das ist immer so«, erwiderte die Alte.
Kevin fuhr fort: »Hell mein Haar und hell mein Blut. Ich habe schon einmal in Paras Derval geopfert, doch das war weit von hier, und nicht heute Nacht.«
Er wartete und entdeckte zum ersten Mal etwas in ihren Augen. Sie schienen klar zu werden, ihr längst verlorenes Blau wiederzugewinnen, und vielleicht war es nur eine Täuschung des orangefarbenen Lichts, das den Steinsitz erleuchtete, aber es kam ihm so vor, als sehe er, wie sie sich im Sitzen aufrichtete.
Mit ihrer einen Nadel zeigte sie nach drinnen, in das Gewölbe. Nicht weit entfernt, beinahe noch auf der Schwelle, erkannte Kevin die Opfergerätschaften. Hier gab es keinen blankpolierten Dolch, keine vortrefflich geformte Schale, um die herabtropfende Gabe aufzufangen. Dies war der älteste Ort, der Herd. Aus dem Boden der Höhle erhob sich ein Felsbrocken bis etwa in Höhe seiner Brust, und an der Spitze war er nicht eben und gerundet, sondern lang und gezackt. Neben dem Felsbrocken stand eine Steinschale, kaum größer als ein Trinkbecher. Einst hatte sie zwei Griffe gehabt, doch einer davon war abgebrochen. Sie wies keinerlei Verzierung auf, keine Glasur, sie war grob, gerade eben in der Lage, ihre Funktion zu erfüllen, und Kevin brachte nicht einmal eine Mutmaßung zustande, wie alt sie sein mochte.
»Tritt ein«, wiederholte die Vettel.
Er ging zu dem Felsbrocken und hob vorsichtig die Schale auf. Sie fühlte sich sehr schwer an. Wieder hielt er inne, und wieder erinnerte er sich an vieles, das aus weiter Ferne zu ihm drang, Lichter einer fernen Küste, Lichter einer Stadt, wie man sie des Nachts von einem winterlichen Hügel aus sah.
Er war sich seiner Sache völlig sicher. Mit gleichmäßiger, bedächtiger Bewegung beugte er sich über den Felsen und legte seine Wange auf die gezackte Spitze. Und während er den Schmerz spürte und das hervorquellende Blut auffing, hörte er hinter sich ein Heulen, einen ungezügelten Laut, in dem sich Freude und Trauer vereinten zu einem
Weitere Kostenlose Bücher