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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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dorthin, wo das Tier verschwunden war.
    »Nun gut«, sagte er und wandte sich ab, »auf geht’s.« Der Hund saß im Schnee und beobachtete ihn mit seinen feuchten Augen. Soviel Traurigkeit in ihnen. Er war versucht, ihn in die Arme zu nehmen, doch der Hund gehörte ihm nicht, sie hatten nichts gemeinsam, und er wollte sich nichts anmaßen. Er begnügte sich mit einer Handbewegung, mit einer recht dümmlichen Geste, und schritt ohne ein weiteres Wort Dun Maura entgegen.
    Diesmal blickte er nicht zurück. Er würde dort bloß Cavall zu sehen bekommen, und der Hund würde ihn beobachten, während er still im mondhellen Schnee saß. Kevin teilte das Dickicht und trat durch die Büsche in die Höhle.
    Sogleich wurde es dunkel um ihn. Er hatte kein Licht mitgebracht, daher musste er abwarten, bis seine Augen sich angepasst hatten* Während dieser kurzen Minute wurde ihm bewusst, wie warm es plötzlich geworden war. Er legte den Mantel ab und ließ ihn neben dem Eingang fallen, wenn auch ein wenig seitlich. Nach kurzem Zögern tat er das gleiche mit dem schöngewobenen Wams, das Diarmuid ihm gegeben hatte. Bei einem schnellen, flatternden Laut draußen zuckte er zusammen, doch es handelte sich nur um einen Vogel. Er schrie einmal, dann zweimal, ein gedehnter, dünner, zittriger Laut. Dann, einen Augenblick darauf, ein drittes Mal, einen Halbton tiefer und nicht mehr so gedehnt. Die Hand an die rechte Seitenwand gelegt, setzte Kevin sich in Bewegung.
    Der Pfad war eben und neigte sich nur allmählich abwärts. Wenn er die Hände ausstreckte, konnte er zu beiden Seiten die Wände ertasten. Er hatte das Gefühl, dass die Decke der Höhle hoch sein musste, aber es war sehr dunkel, und er konnte nichts sehen.
    Sein Herz schien jetzt langsamer zu schlagen, und seine Handflächen waren trocken, obwohl die grob behauenen Wände zu beiden Seiten sich feucht anfühlten. Die Dunkelheit störte ihn am meisten, doch er wusste mit letzter Sicherheit, dass er nicht so weit gekommen war, nur um zu straucheln und sich auf einem düsteren Pfad den Hals zu brechen.
    Lange Zeit schritt er dahin, obwohl er nicht wusste, wie lange. Zweimal waren die Wände einander so nahe gekommen, dass er gezwungen war, sich seitlich zwischen ihnen hindurchzuzwängen. Einmal kam ein Etwas, das durch die Dunkelheit flog, sehr dicht an ihm vorbei, und er duckte sich verspätet, erfüllt von primitiver Furcht. Doch es ging vorbei, alles ging vorbei. Schließlich machte die Höhle einen scharfen Knick nach rechts, und weiter unten und fern erblickte Kevin einen Lichtschein.
    Es war warm. Er öffnete einen weiteren Knopf seines Hemdes, und dann zog er es, einem Impuls folgend, ganz aus. Er sah nach oben. Selbst im neu hinzugekommenen Licht war die Decke der Höhle so hoch, dass sie sich in den Schatten verlor. Der Pfad wurde nun breiter, und dann folgten Stufen. Er zählte sie, ohne guten Grund. Die siebenundzwanzigste war die letzte, und sie führte ihn vom Pfad weg an den Rand eines riesigen, runden Gewölbes, das in orangefarbenem Licht erglühte, dessen Quelle er nicht ausmachen konnte.
    Er blieb instinktiv auf der Schwelle stehen, und als er das tat, sträubten sich die Haare in seinem Nacken und er spürte den ersten Pulsschlag – noch kein Aufwallen, auch wenn er wusste, dass es dazu kommen konnte – einer Macht, die diesen heiligsten aller orte beherrschte, und die Gestalt, die diese Macht in ihm annahm, war endlich Verlangen.
    »Hell dein Haar, und hell dein Blut«, hörte er sagen. Er wandte sich hastig nach rechts.
    Er hatte sie nicht gesehen, und hätte sie nicht wahrgenommen, wenn sie nicht gesprochen hätte. Kaum einen Meter von ihm entfernt war ein grober Steinsitz in die Felswand gehauen. Auf ihm, vom Alter beinahe gänzlich gebeugt, saß eine runzlige, klapprige alte Vettel. Das lange, strähnige Haar hing in ungepflegten, gelblich grauen Ringeln über ihren Rücken und zu beiden Seiten ihres schmalen Gesichts herab. Mit knotigen Händen, so verkrüppelt wie ihr Rückgrat, arbeitete sie unablässig an ihrem formlosen Strickzeug. Als sie seine Verblüffung bemerkte, lachte sie, öffnete weit den zahnlosen Mund zu einem hohen, keuchenden Laut. Ihre Augen, riet er, waren einst blau gewesen, doch jetzt waren sie milchig und wässerig und halb geschlossen vom grauen Star.
    Vor langer Zeit musste ihr Gewand weiß gewesen sein, doch jetzt war es so befleckt und verschmutzt, dass seine Farbe nicht mehr zu erkennen war, und es war vielfach zerrissen.

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