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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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da«, sagte Finn.
    Und so begab er sich auf den Längsten Weg.
     
    Gleich beim Erwachen am Morgen nach dem Sturm war er von Unruhe geplagt gewesen. Immer wieder begann auf unerklärliche Weise sein Herz wie rasend zu pochen, und immer wieder wurden ihm die Handflächen feucht. Er fragte sich, ob er wohl krank sei.
    Getrieben von seiner Rastlosigkeit zog er Dari Stiefel und Mantel an sowie die Mütze, die ihm ihre Mutter in einer Farbe angefertigt hatte, das dem Blau von Daris Augen sehr nahe kam. Dann nahm er seinen kleinen Bruder auf einen Spaziergang durch den Wald am Seeufer mit.
    Der Schnee war von sanftem, reinem Weiß, drückte die Äste der kahlen Bäume nieder und häufte sich auf den Pfaden. Dari machte das großen Spaß. Finn hob ihn hoch empor, und der Kleine ließ den puderigen Schnee von den Zweigen herabregnen, die er erreichen konnte. Er lachte lauthals, und Finn nahm ihn abermals hoch, damit er es noch einmal tun konnte. Gewöhnlich besserte Daris Lachen seine eigene Stimmung, heute jedoch nicht. Er war zu beunruhigt. Vielleicht war es die Erinnerung an die vergangene Nacht: Dari schien die Stimmen wieder vergessen zu haben, die ihn riefen, aber Finn gelang das nicht. Neuerdings geschah das immer häufiger. Beim ersten Mal hatte er ihrer Mutter davon erzählt. Sie hatte gezittert und war blass geworden und hatte dann die ganze Nacht hindurch geweint. Er hatte nichts von den anderen Malen erzählt, da Dari in sein Bett gekrochen war und geflüstert hatte: »Da sind Stimmen.«
    Mit langen Schritten trug er Dari tiefer hinein in das Waldstück, tiefer, als sie sich gewöhnlich vorwagten – in die Nähe jener Stelle, wo die Bäume dichter standen und dann in den düsteren Mörnirwald übergingen. Es wurde kälter, und er war sich bewusst, dass sie. das Tal verließen. Er fragte sich, ob Daris Stimmen wohl in einiger Entfernung vom See lauter und verlockender klingen würden.
    Sie machten kehrt. Er begann, mit seinem Bruder zu spielen, warf Dari in Schneewehen und stieg selbst hinterher. Dari war längst nicht mehr so leicht, oder gar so einfach zu werfen wie früher. Doch seine Freudenschreie waren nach wie vor die eines Kindes und ansteckend, und Finn begann nun doch noch, seinen Spaß zu haben.
    Sie hatten sich purzelnd und rollend ein ganzes Stück vom Pfad entfernt, da trafen sie auf eine der wundersamen Stellen. Inmitten des aufgetürmten Schnees, der tief den Waldboden bedeckte, erspähte Finn einen Farbklecks, und er nahm Dari bei der Hand und stapfte durch den Schnee darauf zu.
    Mitten in einem Fleckchen unglaublich grünen Grases wuchsen einige Blumen. Als er aufblickte, sah Finn darüber eine offene Lücke, wo die Sonne durch die Baumkronen scheinen konnte. Und nachdem er sich wieder den Blumen zugewandt hatte, stellte er fest, dass sie ihm alle bekannt waren – Narziss und Corandiel – bis auf eine. Sie hatten solche grünen Stellen schon öfter entdeckt, er und Dari, und hatten Blumen gepflückt, um sie für Vae nach Hause mitzunehmen, doch nie alle. Nun machte Dari sich daran, ein paar abzuzupfen, denn er wusste, wie sich seine Mutter über Geschenke freute.
    »Nicht die«, gebot Finn. »Lass sie stehen.« Er wusste zwar nicht genau, warum, aber eine innere Stimme sagte ihm, dass sie stehen bleiben müsse, und wie immer gehorchte Dari aufs Wort. Sie begnügten sich mit einer Handvoll Corandiel, mit einem gelben Narziss als Farbtupfer und gingen nach Hause. Vae versorgte die Blumen mit Wasser und stellte sie auf den Tisch, und dann steckte sie Dari ins Bett, damit er seinen Mittagsschlaf hielt.
    Und hinter ihnen im Wald, an jener wundersamen Stelle wachsend, blieb die eine blaugrüne Blume zurück, in der Mitte rot wie Blut.
     
    Er war immer noch unruhig, und schrecklich gereizt. Am Nachmittag ging er noch einmal spazieren, diesmal zum See hinab. Die grauen Wasser schwappten eisig gegen den flachen Stein, auf dem er immer stand. Sie waren kalt, die Wasser des Sees, aber nicht gefroren. Alle anderen Seen, wusste er, waren längst zugefroren. Dies war ein geschützter Ort. Es gefiel ihm, zu glauben, die Geschichte, die er Dari erzählt hatte, entspreche der Wahrheit: dass Daris Mutter sie beschütze. Sie war, erinnerte er sich, wie eine Königin gewesen, selbst in ihrem Schmerz. Und nachdem Dari geboren war und die Frauen kamen, um sie fortzutragen, hatte sie sich neben Finn noch einmal absetzen lassen. Nie würde er das vergessen. Sie hatte mit ihren langen Fingern Finns Haar gestreichelt

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