Das war eine schöne Reise
So, und jetzt gehe ich mir noch rasch ein paar Illustrierte holen und etwas zum Knabbern. Dschüs derweil«, und sie entschwand den Blicken.
Frau Lobedanz machte ein Gesicht, als hätte sie in der Speisekammer die falsche Flasche erwischt und anstatt Apfelsaft einen Schluck Petroleum genommen.
»Hast du Töne, Otto?« sagte sie empört. »Der Anfang ist ja reizend! Das wirbelt hier herein, schmeißt seine Klamotten hin, als ob das ganze Abteil ihr gehöre, und schreit seinen Namen in die Gegend, als ob es uns im geringsten interessiert, ob sie Montag, Dienstag, Mittwoch oder Freitag heißt! Einfach unglaublich!«
»Sie heißt aber Sonntag...«
»Na und? Die freche Person scheint dir womöglich noch zu imponieren, wie?«
»Ach was, von imponieren ist keine Rede. Aber wenn sie solch eine Reise schon zum viertenmal mitmacht, dann wird sie wohl mehr Erfahrung haben als wir.«
»Allerdings!« zischte Frau Lobedanz, »diesen Eindruck habe ich auch! Am liebsten möchte ich das Abteil wechseln. Jetzt bin ich nur darauf gespannt, was wir noch erleben werden.«
III
»Verzeihung, ist in diesem Abteil der Platz Nummer 70?«
Otto Lobedanz blickte auf, aber er sah nur einen gelben Schweinslederhandschuh, der einen Stoß Zeitungen umschlossen hielt; über dem dazugehörenden Arm hing ein sandfarbener Trenchcoat, und die andere unbekleidete Hand trug einen karierten Nylonkoffer. Frau Lobedanz deutete auf den Platz neben ihrem Sohn Otto.
»Besten Dank, gnä’ Frau.«
Ein blauer Blazer mit mattgoldenen Knöpfen, hellgraue Hosen, ein schwarzer schmaler Binder, die Manschetten genau zwei Zentimeter aus dem Ärmel ragend, schwarze Schuhe aus genarbtem Leder...
Otto Lobedanz ließ den angehaltenen Atem mit einem langen Stoß entweichen. Nein, es war nicht Peter Paulsen von den Bunten Hausfrauen-Nachmittagen. — Frau Lobedanz zog die Beine an, als der elegante Mann das Abteil betrat, den Mantel an den Haken über seinem Platz hängte und den mittelgroßen Koffer auf die Sitzbank legte. Er wandte sich an Otto Lobedanz: »Hätten Sie die Freundlichkeit, meinen Koffer für eine Minute im Auge zu behalten? Ich möchte mir noch ein paar Zigaretten besorgen.«
»Selbstverständlich...«
Ein ledernes Schildchen baumelte vom Koffergriff herab. Frau Lobedanz beugte sich vor und legte den Kopf schief auf die Seite: »Jan von Berg...«, buchstabierte sie ehrfürchtig. »Ein richtiger Baron!«
»Ein widerlicher Angeber!« knurrte Otto Lobedanz, »ein geschraubter Fatzke. Von wegen: Koffer im Auge behalten! Als ob er nicht genauso gut hätte sagen können: passen Sie für eine Minute auf meinen Koffer auf.«
»So ein Mann drückt sich eben gewählt aus«, seufzte Frau Lobedanz, »aber dir geht jeder Sinn fürs Höhere ab. Ich habe immer was für den Adel übrig gehabt, auch wenn ich früher, als Vater noch lebte, immer Sozi wählen mußte. Und weshalb? Da war ein Graf von Uertzen, dem dein Vater andauernd Geld ins Haus brachte, aber der Graf war so knickerig, daß er keinen Pfennig Trinkgeld herausrückte.«
» Aber Mutter, ein Postrat nimmt doch keine Trinkgelder!«
»Hör schon auf«, grollte sie, »aber wenn du dir einbildest, daß ich in dieser Gesellschaft als Briefträgerswitwe aufkreuze...« Sie verstummte plötzlich, denn Herr von Berg und Fräulein Sonntag wollten von beiden Seiten des Ganges zugleich das Abteil betreten.
»Entschuldigung, meine Gnädigste«, sagte Herr von Berg, »aber hier bin ich sozusagen zu Hause.«
»Ich auch, und nicht nur sozusagen, sondern tatsächlich«, erwiderte Fräulein Sonntag. Sie hielt eine Rätselzeitung und ein Netz mit Orangen in der Hand.
Herr von Berg zupfte an seiner Krawatte: »Oh, ich hätte nicht geglaubt, so eine angenehme Reisegesellschaft zu finden. Gestatten, mein Name ist Berg.«
»Sonntag...«, sagte die junge Dame kurz.
Herr von Berg schaute etwas blöde drein, bis er begriff, daß es sich nicht um eine Abfuhr in dem Sinn handle, er könne Fräulein Sonntag am Sonntag begegnen, sondern daß es ihr Familienname sei. Frau Lobedanz zog wieder einmal die Beine an die Bank, um die beiden vorbeizulassen, aber sie mußte sie sogleich wieder anziehen, weil zwei Pagen einen Riesenkoffer heranschleppten, dessen Format dem Körpervolumen seiner Besitzerin genau entsprach. Die jungen Leute hatten Mühe, das Trumm in die Gepäckablage zu wuchten, und die Besitzerin hatte Mühe, sich mit ihrer prall gefüllten Bügeltasche, einem Netz voll Obst und einem anderen, in dem sich neben
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