Das waren schöne Zeiten
langen weißen Haaren, die über den Samtkragen seines dunkelblauen Mantels fielen, den er beständig trug. Ich erinnere mich deutlich an seine außerordentliche Freundlichkeit, mit der er uns stets willkommen hieß und auch an die vielen Gläser Zitronenlimonade und die kleinen Kuchen, die er uns durch seine Haushälterin servieren ließ. Es bedeutete für uns jedesmal eine Prüfung und war eine der wenigen Gelegenheiten, bei welcher wir, Tim — wie meine Schwester von allen genannt wurde, obwohl ihr Name Frances war — und ich unser bestes Benehmen an den Tag legten. In späteren Jahren erst wurde mir klar, daß diese Besuche auch Mr. Colenso ziemlich lästig gefallen sein mußten.
Unsere einzigen Freundinnen waren zwei Mädchen, die in dem großen, imposanten Nachbarhaus wohnten. Sie waren die Töchter von Douglas — später Sir Douglas — McLean und genossen, oder genossen vielleicht nicht, all den Wohlstand und Luxus, den wir zwei nicht vermißten. Wir verbrachten abwechselnd die Tage miteinander, und während wir in der Üppigkeit ihres sehr andersartigen Lebens schwelgten, genossen sie die unbegrenzte Freiheit des unseren. Sie führten ein ziemlich abgesondertes Leben und erhielten, so glaube ich, nur die Erlaubnis, mit uns zu verkehren, weil Lady McLean die Familie meiner Großmutter in Irland gekannt hatte.
Im Gegensatz zu unseren Freundinnen waren wir nicht im geringsten von Hausangestellten oder Erzieherinnen eingeengt und wuchsen ziemlich wild auf. Der Grund dafür lag zum Teil darin, daß meine Mutter gezwungen war, ihr Einkommen durch Musikunterricht aufzubessern, und deshalb den größten Teil des Tages außer Haus war. Wie in jener Zeit üblich, suchte sie die Schülerinnen auf, statt daß diese zu ihr kamen; so ritt oder wanderte sie oft meilenweit über die steilen, holprigen Landstraßen von Napier. Ich bin sicher, daß diese anstrengende Tätigkeit schuld an der Arthritis war, die sie in ihrem vierzigsten Lebensjahr befiel.
Sie war überdurchschnittlich musikalisch begabt und hatte vom besten Lehrer Edinburghs eine gründliche Ausbildung erfahren. Aus irgendeinem Grund, den meine viktorianisch erzogene Mutter widerspruchslos akzeptierte und den ich niemals begriff, erhielt sie nur ein sehr bescheidenes Einkommen aus der einträglichen Farm meines Vaters, weshalb sie gezwungen war, auf die einzige ihr mögliche Weise Geld zu verdienen.
Musik gehörte zu den vielen Interessen, die sie mit meinem Vater, der einen angenehmen Bariton besaß, gemeinsam hatte, und sie erinnerte sich mit einigem Stolz an eine Leistung während ihrer ersten Ehejahre. Sie war Organistin in der >Waimate North Church<, und mein Vater und sein Bruder Henry sangen im Kirchenchor. Henry Clarke hatte eine schöne Tenorstimme. Damals hatte er sich bereits von seinem Posten als >Zweiter Sekretär für Angelegenheiten der Eingeborenen< zurückgezogen, trug aber immer noch voller Genugtuung seinen Titel >Weißer Häuptling<, der ihm von den Arawas verliehen worden war.
Diese drei musikbesessenen Leute empfanden bitterlich die unzulängliche Qualität der Harmoniummusik in der Kirche, und eines Tages sagte meine Mutter sehnsuchtsvoll: »Wenn wir bloß eine Orgel kaufen könnten!«
Vom Ehrgeiz befeuert, begannen sie in ihrem großen Salon Konzerte abzuhalten, wozu sie alle ihre Nachbarn und Freunde einluden, in der Erwartung, bei jeder dieser Gelegenheiten einen kleinen Beitrag zum Erwerb einer Orgel zu erhalten. Schließlich hatten sie die erforderliche Summe zusammen und ließen sich von England eine kleine Orgel schicken. Doch als diese in verschiedenen großen Kisten eintraf, starrten sie voller Schreck auf die einzelnen Teile. Wie in aller Welt baute man das Ding zusammen?
Fast eine ganze Woche schlossen sich die drei Musikenthusiasten in der Kirche ein und mühten sich damit ab, ein unbekanntes Instrument zusammenzubauen. Sie schafften es. Doch meine Mutter erzählte mir, daß es ein nervenzerreißender Moment war, als sie sich vor die Orgel setzte und versuchte, darauf zu spielen.
»Du kannst dir unmöglich meine Freude vorstellen, als sie funktionierte! Einer der stolzesten Augenblicke meines Lebens war der darauffolgende Sonntagmorgen. Wir hatten alles geheimgehalten, und du kannst dir das Erstaunen auf den Gesichtern der Gemeindemitglieder vorstellen, als sie unter den Klängen eines Orgelsolos von Händel die Kirche betraten.«
Diese Orgel, erworben in England im Jahre 1885 um den Preis von zweihundertfünfzig
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