Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Weihnachtshaus

Das Weihnachtshaus

Titel: Das Weihnachtshaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Jones Gunn
Vom Netzwerk:
musst die Stufen aber ganz leise und auf Zehenspitzen hinuntergehen. Wollen wir?»
    Julia nickte und schob ihre kleine Hand in meine.
    Mit winzigen Schritten gingen wir über den Flur zur Treppe. Als wir auf die zweite Stufe traten, knarrte sie laut, und Julia machte ein «O nein!»-Gesicht.
    Ich hörte Geräusche hinter einer der Schlafzimmertüren auf dem langen Flur, als ob noch jemand im Haus wach war. Ich hoffte, dass es in Ordnung war, was ich hier mit Julia vorhatte. Ich wusste ja nicht, ob ich mit diesem Gang ins Erdgeschoss des ruhigen Hauses mit einer Familientradition brach.
    Wir schafften es auf den Treppenabsatz. Nun lagen nur noch die restlichen acht Stufen vor uns, die hinunterführten in die große Eingangshalle. Ich wollte losgehen, doch Julia blieb stehen und ließ meine Hand los.
    Sie seufzte leise und stürzte zur Fensterbank. Draußen, im blassrosa Licht der Morgendämmerung, wirkte die Welt so weich und luftig wie eine schneeweiße Taube. Das Rosa der aufgehenden Wintersonne überzog den Schnee am Horizont mit dem überirdischen Glanz des ersten Lichts. Man konnte sich einfach nicht sattsehen.
    Ich stand neben Julia, die ganz gebannt war, und wir beide beobachteten, wie der Tag auf weißen Federschwingen anbrach. Die Bäume sahen prächtig aus, wie majestätische Zofen, an deren eleganten Ohren und schlanken Armen eiszapfenförmige Diamanten schimmerten.
    «Ist das Schnee?», fragte Julia und flüsterte nun zum ersten Mal.
    «Ja, das ist Schnee. Herrlich, nicht wahr?», flüsterte ich zurück.
    Julia nickte. Ihr Blick war immer noch durch das große Fenster auf das unvergleichliche Schauspiel gerichtet, wo sich der schlafende Garten am Tag zuvor noch braun und unbeachtet ausgedehnt hatte.
    Ich saß mit ihr auf der gepolsterten Fensterbank. Vertrauensvoll hatte sie es sich auf meinem Schoß bequem gemacht und ihren Kopf an meine Schulter gelegt.
    Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals bei einem Menschen so eine vollkommene innere Ruhe gespürt zu haben wie in diesem Augenblick bei Julia, die sich behaglich an mich schmiegte. Genauso hatte ich mich an meine Mutter geschmiegt, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab. Sie schien dessen nie überdrüssig zu werden. Immer wenn ich das sichere Gefühl ihrer Berührung brauchte, war sie für mich da. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich eines Tages einem jungen Leben dieselbe Zärtlichkeit geben könnte.
    Dann fiel mir ein, dass Julia mehr war als irgendein kleines Mädchen. Sollte Sir James mein Vater und Edward mein Halbbruder sein, dann wäre Julia meine Nichte.
    Ich atmete tief ein, wie um mir Mut zu machen, und mir wurde klar, dass ich viel mehr verlieren würde als nur das Wissen darum, wer mein Vater war, wenn ich darauf verzichtete, das Geheimnis meiner Herkunft aufzuklären. Ich würde den einzigen Halbbruder verlieren, den ich hatte, zusammen mit seiner Zuckerfee-Frau. Ich würde einen zwölf Jahre alten Neffen verlieren, dem ich noch nicht einmal begegnet war. Und ich würde meine einzige Nichte verlieren, diesen bezaubernden kleinen Schatz, der sich gerade an mich gekuschelt hatte und dessen Haar nach warmem Ahornsirup duftete.
    Der Preis für meinen Entschluss, edelmütig zu sein, wäre viel höher, als ich zunächst gedacht hatte.

VIERZEHNTES KAPITEL
    Die kleine Julia hatte den Weihnachtsmann und die Geschenke unter dem Baum völlig vergessen, und dafür blieb sie bei mir auf der Fensterbank. Zusammen beobachteten wir zwei rotbraune Vögel, die von den eisigen Zweigen eines Apfelbaumes flogen und im frischen Schnee landeten. Sie hüpften über den makellos weißen Teppich und hinterließen auf dem Weg zum schneebedeckten Futterhäuschen winzige Spuren im Schnee. Sie flatterten und pickten im Schnee herum, bevor sie bei ihrem kalten Frühstück ankamen.
    Ich strich über Julias seidiges Haar und summte das einzige Weihnachtslied, das mir in diesem Augenblick in den Sinn kam. «Stille Nacht».
    Julia lehnte sich an mich und seufzte zufrieden.
    Es war ganz still. Es war ganz hell.
    In diesem zeitlosen Augenblick auf der Fensterbank verstand ich, und es kam mir vor wie ein Geschenk. Ich verstand, wie selig meine Mutter gewesen sein musste, wenn sie mich in den Armen hielt. Ich war ihr Baby gewesen. Sie hatte ihr Bestes gegeben und mich geliebt, trotz ihres unsteten Lebens.
    Ich hatte es meiner Mutter übelgenommen, dass sie so viele Jahre in ihrer eigenen Märchenwelt lebte, doch das alles verflüchtigte sich nun, als ich den

Weitere Kostenlose Bücher