Das Weihnachtshaus
sich auf seinen Stock.
Ich entschloss mich, am nächsten Morgen mit Edward, Ellie und ihren Kindern zum Gottesdienst zu gehen. Ich machte meiner Mutter das Geschenk, wieder ein Theater zu besuchen. Mein Geschenk an Doralee war, dass ich in eine Kirche ging.
In diesem Augenblick wusste ich, dass ich an diesem Tag genügend Entscheidungen getroffen und genügend Informationen erhalten hatte. Es war ein sehr langer Tag gewesen. Ich wollte nur noch das Gästezimmer aufsuchen und mich vom Schlaf in eine Decke aus Zeit und Raum einhüllen lassen, damit alle Himmelskörper in meinem eigenen Kosmos sich neu ordnen konnten. Die Welt, in der ich mich jetzt bewegte, war nicht mehr die, die ich seit neunundzwanzig Jahren kannte. Ich musste meine Mitte neu finden.
Auf Zehenspitzen ging ich die Treppe hinauf, die mich so einladend empfangen hatte. Nach acht Stufen kam ein Treppenabsatz mit einer gepolsterten Fensterbank und einem großen bleiverglasten Fenster, das auf einen ausgedehnten Garten hinausging. Ich blieb stehen und schaute in den Schneesturm hinaus, der von den Fenstern im Erdgeschoss beleuchtet wurde. Der Garten versank schnell unter dem vielen Schnee.
Nachdem ich fast mein ganzes Leben an der Westküste verbracht hatte, wusste ich wenig über Schnee. Ich wusste, dass er manchmal sanft wie eine Taube auf die Erde herunterfällt und Häuser, Bäume und Zäune mit fedrigem Weiß überzieht. Manchmal bläst er als schlimmer Sturm über ruhige Städtchen hinweg und bedeckt alles, was sich ihm in den Weg stellt, mit einem weißen Laken. Solch ein Sturm war es, den ich dieses Jahr zu Weihnachten beobachtete.
Aber ich war in Sicherheit, gut untergebracht in einem geräumigen Gästezimmer des Hauses, das von Edward Whitcombes Ururgroßvater erbaut worden war. Von einem Mann, der höchstwahrscheinlich auch mein Ururgroßvater war.
DREIZEHNTES KAPITEL
Ich weinte in dieser Nacht, und ich wehrte mich nicht dagegen. Ich weinte, weil ich eine Frau in Trauer war. Ich trauerte, weil ich in meiner Kindheit keinen Vater gehabt hatte. Ich trauerte, weil ich meine Mutter verloren hatte, als ich gerade ein Teenager geworden war. Ich trauerte, weil ich Doralee verloren hatte, als ich gerade erwachsen geworden war.
Und ich weinte, weil ich mich selbst verloren hatte. Weil mein Leben aus lauter Scherben bestand, die sich nun vielleicht zusammenfügen würden.
Ich weinte in das dicke Kissen, das am hohen hölzernen Kopfende des Gästebettes lag. Wie Shakespeares Miranda wartete ich auf das Ende des Sturms mit einer Beharrlichkeit, die sich aus einer unbegründeten Hoffnung und einem idealisierten Vertrauen speiste. Das frische weiße Kopfkissen nahm meine Tränen auf und hielt sie gefangen, so, wie das Schiffssegel den Wind gefangen hält.
Ich weinte lautlos. Die wenigen erstickten Schluchzer verschwanden tief in dem Kissen und blieben dort. Wenn der Sturm nachließ, würde ein Kapitel meines Lebens in diesem Gästezimmer zu Ende gehen. Ich atmete wieder gleichmäßiger, und ich dachte darüber nach, was vor mir lag. Im Frieden mit mir selbst traf ich eine Entscheidung.
Ich würde meine mögliche Verbindung zu Sir James geheimhalten. Ich würde dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen, genau wie meine Mutter es getan hatte.
Ich entschied auch, dass ich Katharine bei unserem nächsten Zusammentreffen beiseitenehmen und sie bitten würde, unsere gemeinsamen Vermutungen für sich zu behalten. Sie schien zu den Frauen zu gehören, die ein Geheimnis für sich behalten können.
Während ich einschlief, dachte ich darüber nach, warum ich so entschieden hatte. Dass ich vielleicht ein Teil dieser Familie war, würde nichts ändern. Ob Sir James mein Vater war oder nicht, würde nichts daran ändern, wer ich war oder was ich tat oder wie ich mein Leben lebte. Allein die Möglichkeit – und die Hinweise schienen nur allzu klar – genügte mir. Wie viel Unruhe würde ich in dieses Haus bringen, über dessen Eingang «Gnade» und «Frieden» wachten? Ich fühlte mich wohl bei dem Gefühl, edelmütig zu sein. Meine Vermutungen für mich zu behalten schien mir der edelmütigste Weg zu sein, den ich einschlagen konnte.
Ich erwachte aus einem tiefen und traumlosen Schlaf. Draußen war es noch dunkel. Die kleine Uhr neben dem Bett zeigte 07 : 09 Uhr. Es war Weihnachtsmorgen. Bevor ich zum Badezimmer am Ende des Flurs ging, musste ich meine zerknitterte graue Hose anziehen, das weiße T-Shirt und meinen Pulli. Ich schob die Tür so leise
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