Das Weihnachtshaus
wie möglich auf und ging auf Zehenspitzen über den Läufer auf dem Holzfußboden durch den Flur. Bei jedem dritten oder vierten Schritt knarrte der Boden, und es war unmöglich, kein Geräusch zu machen.
Ich versuchte, das Wasser nur ganz leise laufen zu lassen, wusch mir das Gesicht und drückte das kühle Handtuch auf meine Augen, die vom vielen Weinen ganz verquollen waren. Ich drückte ein wenig Zahnpasta auf meinen Finger und putzte so meine Zähne. Mit mäßigem Erfolg. Wenigstens ließ sich mein Haar leicht mit einer Spange hinten zusammenklemmen. Ich sah sicher nicht perfekt aus, aber ich fühlte mich gut. Auf alles gefasst, was da kommen möge. Meine Mitte kehrte zurück, und diese Mitte war ich, genau so, wie es notgedrungen in den letzten anderthalb Jahrzehnten gewesen war.
Kaum hatte ich das Badezimmer verlassen, öffnete sich eine der Schlafzimmertüren auf dem Flur. Die fünf Jahre alte Julia erschien in einem rosa Morgenrock und in flauschigen Hausschuhen, die aussahen wie Enten. Sie sah mich erwartungsvoll an.
Dann verzog sich ihre Miene. «Du bist nicht der Weihnachtsmann.»
«Nein», flüsterte ich und legte einen Finger auf die Lippen. «Ich bin nicht der Weihnachtsmann.»
«Wer bist du dann?» Sie tat mir nicht den Gefallen, leise zu sprechen.
«Ich heiße Miranda. Ich bin …» Ich wusste nicht, wie ich erklären sollte, wer ich war. «Ich bin zu Besuch bei deiner Mutter und deinem Vater.»
«Warum redest du so?»
Ich flüsterte immer noch, weil ich hoffte, sie würde es mir gleichtun. «Ich lebe nicht hier in England. Ich komme aus Amerika.»
«Bist du ein Filmstar?» Sie blickte mich voller Hoffnung an.
Ich schüttelte den Kopf.
«Als ich klein war, hatten wir einmal einen Filmstar bei uns zu Hause, und der hat in dem Zimmer da gewohnt.» Sie deutete auf das Gästezimmer, aus dem ich gerade gekommen war. «Er ist an dem Tag gekommen, als mein Großvater in den Himmel kam.»
Sie betrachtete mich eingehender. Mit leicht geneigtem Kopf fragte sie: «Hast du meinen Großvater gekannt?»
Ich spürte einen scharfen Stich in meinem Herzen. «Nein», flüsterte ich ganz leise, «ich habe deinen Großvater nicht gekannt.»
Ich biss mir innen auf die Lippe und fügte hinzu, bevor mir die Tränen kamen: «Ich hätte ihn so gern gekannt.»
Sie gähnte wie eine kleine Katze.
Ich nahm mich zusammen und sagte: «Du solltest wieder ins Bett gehen. Wenigstens noch ein Weilchen.»
«Aber ich möchte hinuntergehen und nachschauen, ob der Weihnachtsmann mit den Geschenken schon da war.» Ihre dunklen Augen leuchteten. «Gehst du mit mir hinunter?»
Ich hatte keinerlei Erfahrung, wie man sich bei einer Familie am Weihnachtstag angemessen verhielt. Ich kannte nur amerikanische Spielfilme, in denen gespannte Kinder im Morgengrauen hinunterstürzen und unter dem Weihnachtsbaum Berge von bunten Geschenken vorfinden.
Meine Kindheitserinnerungen beinhalteten Geschenke, die in Programmhefte gewickelt waren, und dürre, mit Silberlametta geschmückte Bäume. Am Weihnachtsmorgen rissen meine Mutter und ich uns nicht darum, die wenigen Geschenke auszupacken. Bei uns war es Tradition, im Bett zu bleiben und uns zum Frühstück eine Schachtel von Whitman’s Sampler Chocolates zu teilen. Erst dann wandten wir uns den Geschenken zu.
Meine Mutter klatschte immer in die Hände, wenn ich meine Geschenke auspackte, normalerweise so etwas wie neue Socken, die nicht aus einem Secondhand-Laden stammten wie meine übrige Kleidung. Jedes Jahr wickelte ich Fläschchen mit Lotion oder Shampoo aus den Hotels ein, in denen wir wohnten, und sie tat immer überrascht und erfreut. Dann öffnete sie die Fläschchen und roch daran, als ob ich ihr ein französisches Parfüm geschenkt hätte. Für den Rest des Tages schauten wir uns Filme an, und manchmal machte meine Mutter ein Nickerchen.
«Kommst du mit? Bitte?» Die verschlafene Julia zog an meinem Ärmel. Sie sah hinreißend aus in ihren gelben Entenhausschuhen.
Ich blickte den Flur auf und ab. Ich hatte eine Rolle übernommen, und ich wusste nicht, ob ich sie spielen könnte. «Na gut. Ich komme mit, aber wir müssen ganz, ganz leise sein. Wir wollen den Weihnachtsmann nicht stören, wenn er noch unten ist.»
«Glaubst du, er ist noch hier?» Julias Augen wurden groß, so, wie bestimmt auch meine Augen groß geworden waren, als meine Mutter mir mit ihren Geschichten das Tor zu einer phantastischen Parallelwelt öffnete.
«Ich weiß es nicht. Wir schauen nach. Du
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