Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)
Ja, Leben – das, was uns alle angeht, euch lebende Tote und uns lebende Lebende.
Die Welt der Lyrik zieht ein paar furchtbare Arschlöcher an. Vorwiegend furchtbare. Die Künste sind oft Schlupflöcher für Leute, die lieber woanders Erfolg gehabt hätten. Das zeigt sich an ihren Hemdschößen und ihren dreckigen Unterhosen. Aber die Kunst braucht Zeit, mehr als die Geschichte und das Geschick der Völker. Polizeirazzien deuten allerdings meist darauf hin, dass etwas Ordentliches geschaffen wird. Und das Schönste daran ist, dass die meisten wirklich Kreativen wenig oder nichts mit Politik am Hut haben. Deswegen überlässt man die Razzien der Ortspolizei statt der Nationalgarde, denn die, verdammt, hat andernorts genug zu tun. Das Hauptproblem ist, dass Unschuld vor Gericht heutzutage nicht mehr ausreicht. Man braucht Geld, um gegen die Tücken des Unrechts und den Geisteszustand unserer Richter und Geschworenen anzugehen. Teufel, du kannst einem Anwalt sagen, was du denkst, aber er muss deine Gedanken so ummodeln und revidieren, dass sie in den Rahmen toter Gesetze passen, die von Toten zum Schutz der Toten abgefasst worden sind. Keiner blickt wirklich durch; alle sind dem Nebel und der Unwirklichkeit langer Jahre erlegen.
Ich denke oft über die schönen Künste nach, wenn ich einigermaßen nüchtern bin, und ich schätze, die Zeit wird das meiste davon einäschern, selbst wenn besagte WAFFENARSENALE nicht hochgehen. Ich blicke voraus und sehe, dass man van Gogh als wunderbaren dummen Jungen abtun wird, dem es letztlich angeblich an Unschuld, Herz und Ausdrucksfähigkeit gefehlt hat – genau den Sachen, für die er jetzt gerühmt wird. Aber so arbeitet die Zeit. Matisse hingegen wird bleiben, weil wir ihn nicht sattbekommen. Dostojewskij wird bleiben, auch wenn man sich über einige seiner Sachen lustig machen wird, als seien sie das Werk eines nervösen Spinners. O’Hara, der Romancier unserer Tage, wird schnell verschwinden, Norman Mailer gleich hinterher. Kafka ist zwar Realist, wird aber nicht bleiben, wenn sich die neuen Dimensionen auftun. D. H. Lawrence wird bleiben, auch wenn ich im Augenblick nicht sagen kann, wieso. Ich hab es nicht im Kopf, nur im Gefühl. Einige der frühen Short Stories von William Saroyan werden bleiben. Conrad Aiken wird sehr lange bleiben, bevor er in der Strömung untergeht. Dylan Thomas, nein, und Bob Dylan ganz sicher nicht. Ich weiß nicht, ich weiß es wirklich nicht, Herrgott noch mal, es sieht alles so nach Schwund aus, oder? Camus, klar. Artaud, klar. Dann muss ich schon zu Walt Whitman zurückgehen, dieser Tunte, die nach Matrosenschwänzen gelechzt und sie wohl auch gelutscht hat, da habt ihr dann eure Kultur , was?
Aber wenn ihr meint, die Zeit und die Bullen seien schlimm hier, dann hört euch mal an, was Vagabond -Herausgeber J. Bennett mir am 2. Dezember 1965 aus München schreibt: »… Deine alten Gedichte drucken sie hier nicht alle – Gedichte wie Deine verbrennen sie. Das ist ein Kompliment. Gerade erst haben sie in Düsseldorf einen Haufen Bücher von Günter Grass, Heinrich Böll und Nabokov in Flammen aufgehen lassen – irgend so ein gottesfürchtiger Verein. Und in Berlin hauen sie richtig auf die Sahne – sie haben das Haus vom alten Grass in Brand gesteckt. Grass lächelt nur schief und schreibt weiter …«
Sie sind schon ewig hinter uns her (siehe Lorca), wir selbst aber auch, mit unseren eigenen Messern. Wir sind die Schmetterlinge eines schlechten Sommers. Und trotzdem bleibt dieser Artikel verdammt nochmal eine Verteidigung der Poesie gegenüber anderen Formen sogenannten Dichtens und Lebens. Viele von uns kommen nicht zum Erfolg, aber mit der nötigen Portion Glück und, mein Gott, Liebe, schaffen wir es doch irgendwie, was dann nicht heißt, dass wir einen Cadillac fahren, sondern dass wir keinen fahren und was sonst noch alles dazugehört. Ich habe diesen Artikel geschrieben, weil so wenige von uns poetischen Outlaws einen Grund oder Grundsatz formuliert haben, auf dem sich stehen lässt. Die Quarkköpfe und Englischlehrer reden ständig von einer ziemlich abwesenden und untauglichen Lebensplattform herunter. Und doch lässt ihr Gesabbel wie Dauerregen praktisch alle ertrinken. Ich hoffe, dass diese paar Worte vom hintersten Barhocker zu dem einen oder anderen durchgedrungen sind – dass unser scheinbar erfolgloses Leben und Treiben und Dichten gewollt ist. Wir sind mehrheitlich weder Totschläger noch Schwindler. Aber
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