Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)
vor der Lüge rühren daher, dass hier ein Mensch vom Leben zerquetscht worden ist, von der entsetzlichen Erkenntnis, dass seine Mitmenschen, seine Künstlerkollegen gewissermaßen nur »Schweine« waren.
Wenn ein wirklich Großer daherkommt, wird nicht einmal seine einfachste Aussage verstanden – die breite Masse ist ein Albtraum des Lebens, Künstler und Intellektuelle sind ein noch schlimmerer Albtraum als die Massen (denn hier, im letzten Aufgebot, zeigt sich, dass auch die sogenannten besten Köpfe und Geister nichts verstehen – sogar noch WENIGER verstehen als die breite Masse). Liebe ist unmöglich. Frauen werden von Natur aus von der Lüge angezogen. So sehr, dass sie irgendwann die Lüge ein für alle Mal heiraten. So hält die Natur den grauenhaften Schmant am Laufen, so hält sie die Zysten offen, so sorgt sie dafür, dass sich Tropf an Tropf klammert, damit sich auch in Zukunft Tröpfe aneinanderklammern, damit … Je stärker ein Mann ist, desto mehr wird er allein sein – das ist Mathematik. Und ob einer sein Leben im Irrenhaus oder in einer Flugzeugfabrik zubringt, ändert nichts an seinem Schmerz … oder an seiner Größe.
Dieses pralle Buch, 255 Seiten, ist seine $ 3 allemal wert. Beigefügt sind viele Fotos von Artaud und einige seiner Zeichnungen. Die Zeichnungen haben Charme – ja, etwas Liebevolles –, und der Saft des Lebens pulst in ihnen. Ich rate Ihnen zum Kauf. Lesen Sie ein paar dieser Sätze, wenn Sie deprimiert sind, wenn’s mal wieder hart auf hart kommt, und Sie reißen sich garantiert zusammen und hängen sich noch mal rein. Artaud war einer der wunderbarsten Verrückten der Welt. Versuchen Sie nur mal, was Vergleichbares auf der Straße zu finden, oder auch bei Ihnen im Zimmer oder im Zimmer nebenan. Fehlanzeige. Ein Hoch auf City Lights Books und Jack Hirschman. Die Ehre ist überall. Sie brauchen nur zuzugreifen.
»Alles Geschriebene ist Sauerei« nach Antonin Artaud, Die Nervenwaage und andere Texte, übers. v. Dieter Hülsmanns u. Friedolin Reske, Frankfurt am Main: S. Fischer 1964; Artauds Antwort an Dr. L. nach Elena Kapralik, Antonin Artaud, München: Matthes & Seitz, 1977, S. 241; Artaud über van Gogh und die eigenen Jahre im Irrenhaus zit. nach Antonin Artaud, Van Gogh, Selbstmörder durch die Gesellschaft. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Bernd Mattheus, München: Matthes & Seitz 2009, S. 24 u. 32.
Ein alter Säufer, den das Glück verließ
Papa Hemingway von A. E. Hotchner, Bantam Books, 335 Seiten mit 16 Seiten Fotos, $ 1 . 25 (Deutsche Ausgabe, übers. v. Paul Baudisch, 1966 bei Piper)
Wenn es sie nicht schon gibt, dann wird es bald mehr Bücher über, unter, vor, hinter und um Hemingway herum geben als über D. H. Lawrence. Gewisse Leute schüren die Gier des Publikums nach Klatschgeschichten, denn die wenigsten interessiert, was jemand geschaffen hat, nur was er so gemacht hat, wie er’s gemacht hat, mit Haaren auf der Brust, hurenhalber abgeschnittenem Ohr, Selbstmord per Sprung vom Dampferheck, zermalmt von der Schiffsschraube, homosexuell; ganz gleich, was jemand geschaffen hat, das Publikum will seine Arschhaare sehen, sein Lotterbett, sein Arzneischränkchen, seine Schmutzwäsche. Es ist ein aasgeiriges, geistloses Publikum, aber das sind die Leute, die so was KAUFEN, genau wie ich mir dieses Bantam-Taschenbuch gekauft habe. Und als Erstes sieht man sich natürlich die Fotos an. Und wahrhaftig, der alte Mann sah nicht besonders gut aus. So wird man, wenn man solche Bücher schreibt? Er hätte auch Pfandverleiher sein können. Ein gefundenes Fressen für die Klatschfuzzis. Zumal für die, die kein bisschen schreiben können und Unterstützung, Rückhalt, einen Vorwand brauchen. Schaut sie euch an – wie sie 1949 in Nîmes die Stufen des römischen Kolosseums hinuntergehen. Hemingway sieht aus wie ein gichtgeplagter Rabbi und Mary wie ein erblindetes Chorfräulein. Aber es gibt noch schlimmere Fotos, mehr als genug für die Geier. Wenden wir uns der Story zu, der Biographie …
Hotchner lernte Hemingway 1948 auf Kuba kennen, in Havanna genau gesagt, als er im Auftrag des Cosmopolitan E. H. für einen Artikel über »Die Zukunft der Literatur« gewinnen sollte, wenn es sich machen ließ. Der Artikel kam nie zustande, aber Hotchner blieb mit Unterbrechungen am Ball bis zu Hems Selbstmord, und hier haben wir nun die Ausbeute – wir sehen, wie Hotchner seinem Papa quer durch Spanien, Paris, Kuba, Key West,
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