Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)
gelassen worden, angeschossen und verprügelt, im Suff ausgeraubt; man hat uns angespuckt, weil wir, statt den Part in ihrer Geschichte zu übernehmen, in einem kleinen Zimmer auf unsere Stunde gewartet haben, mit Schreibmaschine oder auch ohne Schreibmaschine, nur mit dem Papier unserer Haut und dem, was darunter war, und wenn wir uns dann – müde und zerschlagen, aber noch lebendig – hingesetzt haben, um zu schreiben, haben wir natürlich nicht ganz so geschrieben, wie nach Ansicht einiger Leute GEDICHTE geschrieben werden sollten, oder wie nach Ansicht einiger Leute überhaupt geschrieben werden sollte. Wir haben uns den gefälligen und abstumpfenden Formen ihres Totseins eben nicht angepasst. Nichts hassen die Toten so sehr wie den Anblick von etwas Lebendigem. Irgendwie wurden wir also an den ganz wenigen Stellen gedruckt, wo man uns zu drucken wagte. Und dann ging das Geschrei der Toten los:
UNRAT! BAH! DAS IST DOCH KEINE LYRIK ! Wir werden Sie der Postbehörde melden.
Nach Meinung vieler sollte Lyrik nur Harmloses oder gar nichts zum Ausdruck bringen, weil Lyrik für sie eine harmlose Welt und Sicherheit bedeutet. Der Feinsinn ihrer Lyrik besteht darin, das sie von allem handelt, was nicht zählt. In ihrer Welt ist Lyrik wie ein Bankkonto. Lyrik wie aus der alten Chicagoer Zeitschrift Poetry , die schon so elend lange tot ist, dass es sich kaum noch lohnt, sie anzugreifen: Es wäre, als ob man eine 80-jährige Oma beim Beten in der Kirche ohrfeigt.
Aber ich nehme an, die hinterhältigen kleinen Leute voll Rotz und Tod wird es immer geben. Und während wir sagen, lasst sie leben, lasst sie, lasst ihnen ihren Willen, nur lasst auch uns Raum zum Atmen … gehen sie auf uns los, Brüder, mit ihren von der Historie angefressenen, akademisch geschrumpften Hirnen, und ihre Frauchen daheim spielen mit Pflanzen und verblasenen Uraltversen aus dem 17. Jahrhundert herum, derweil ihre neurotischen Gatten kalt lächelnd irgendwelche armen Hunde im mächtigen Namen des Fortschritts und des Profits ausnehmen, und das sind nun verflucht nochmal die Leute, die unsere Werke als unecht, schmutzig, abgedreht, gnadenlos und blind abtun …
Mein Gott, mein Gott, könnte ich mir heute Abend bloß das verdammte Herz rausreißen und es ihnen zeigen! Aber selbst dann würden sie es noch für eine Aprikose halten, eine vertrocknete Zitrone, einen alten Melonensamen.
Das Normalste und Realste von der Welt können sie sich nicht vorstellen. Zum Beispiel, dass ein Hausmeister, der das Damenklo saubermacht, in punkto sinnvolle und nichtdestruktive Beschäftigung dem Präsidenten der USA womöglich ebenbürtig, wenn nicht überlegen ist, oder dass er ein besserer Mensch sein könnte als das Oberhaupt jedes so genannten Staates, der auf der schrecklichen und beschämenden Geschichte des Todes basiert. Das würden sie niemals einsehen, weil ihr Blick darauf geeicht ist, nur Totes zu erfassen, zu sehen und gut zu finden.
Wir, die wir die Lyrik des Lebens schreiben, viele von uns werden langsam müde und krank und geben fast auf (aber nicht ganz). Dennoch wissen wir, dass wir Gott nicht brauchen, um göttlich zu sein, dass wir keine Gartenpoesie brauchen, um erlöst zu sein, dass wir keinen Krieg brauchen, um frei zu sein, dass wir keinen Creeley zum Bewundern brauchen, dass wir keine Ginsbergs brauchen, die zu schwadronierenden Freaks verkommen, dass wir vielleicht aber ein wenig weinen sollten um all die reizenden Mädchen, die alt geworden sind, um das verschüttete Bier, die Raufereien auf dem Rasen vorm Haus, bloß weil wir berauscht waren von trauriger Liebe. Ich verteidige entschieden unsere Lyrik, die Lyrik der Lebenden in dieser Generation der Waffenlagerer, ich verteidige unsere Lyrik und unser Recht, sie vorzutragen, unser Recht, sie zu schreiben. Ohne Schlips und Kragen. Ohne dass die Polizei eine Zeitschriftenredaktion wegen »Obszönität« stürmt. Ohne dass man deswegen seinen Scheißjob verliert. Wobei ich bitteschön nichts, was ich schreibe, als unsterblich verteidige; ich verlange keine besondere Wertschätzung – alles ist so schon genug wert. Wenn ich mir die Schuhe anziehe, sehe ich bloß 2 Füße da unten, aber so viel sei gesagt: Einige wenige Leute wie ich, ob begabt oder nicht, haben eine Wahl getroffen; wir sind das andauernde Todesspiel leid, wir versuchen trotz kaputter Arme, Nasen, Hirne, Knochen, Existenzen ein Fünkchen Normalität rüberzubringen, etwas von der dicken fetten Sonne namens LEBEN!
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