Das weiße Amulett
Klarsichthülle lag. In letzter Zeit flogen ihr die Dinge und Lösungen beinahe zu. So sehr sie am Anfang Schwierigkeiten zu überwinden hatte, so leicht wurde es auf einmal für sie, ihren Auftrag zu erfüllen. Alles schien wie von selbst zu geschehen.
Karen hielt die Klarsichthülle in Händen, in der ein alter vergilbter Brief des Professors lag. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie das Datum des Briefs las: 16.9.1907. Es war Bernhardts letzter Brief. Und er war an Lescot gerichtet.
Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie den Brief immer und immer wieder las. Bernhardt hatte sich in ihm bei Lescot entschuldigen wollen, aber das Schreiben hatte Lescot nie erreicht. Und jetzt hatte sie es wieder in der Hand. Sollte sie es Michael zeigen? Sollte sie ihm alles sagen? Sagen, was für verrückte Gedanken und Erinnerungen immer wieder aus den Tiefen ihrer Seele aufstiegen und in ihrem Kopf herumschwirrten? Nein, es war zu verrückt. Vielleicht würde sie es tun, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Vielleicht würde sie es auch niemals tun. Sie wusste es nicht.
Sie wusste nur eins – dass sie Michael von Anfang an vertraut hatte, seit ihrem ersten Zusammentreffen an der Metrostation, ohne Kompromisse, ohne jeden Zweifel.
Es war ein großer Fehler gewesen, dass sie Lescot nicht restlos vertraut hatte. Er war zwar ihr Assistent gewesen und zuverlässiger als die anderen Studenten, aber absolutes Vertrauen hatte sie nur in ihre eigenen Fähigkeiten gehabt. Sie schämte sich für ihre damalige Hybris, aber dafür war es nun zu spät.
Vielleicht waren Michael und sie deswegen wieder in diesem Leben zusammengetroffen, um ihre früheren Fehler zu erkennen und sie nicht zu wiederholen?
Sie hatten beide aus ihren Fehlern gelernt und hatten ihre Querelen überwunden. Oder?
56
Die Sonne stand an diesem Oktobernachmittag tief am Himmel, als ein Hoteldienstmädchen des Vernet an der Zimmertür klopfte und Karens gereinigte Kleidungsstücke brachte. Während Karen die Sachen entgegennahm, lag Mansfield gelangweilt auf der Couch und las die letzten Seiten in seinem Buch über Alexander den Großen. Über einen Monat hatte er im Krankenhaus gelegen, ehe er gestern entlassen worden war und jetzt diesen letzten Tag mit Karen in Paris verbrachte.
Sie legte ihre Sachen auf einen Sessel und holte ihren Koffer aus dem Schrank, als Mansfield plötzlich hinter ihr stand und sie mit seinem gesunden rechten Arm umschlang. Seine Lippen arbeiteten sich zärtlich ihren Hals empor.
»Warum willst du unbedingt nach Hamburg zurück, Darling?« Er knabberte an ihrem Ohr. »Ich versteh das nicht. Das Buch kannst du doch auch in New York schreiben.«
Ihre Stirn wurde langsam Kuss für Kuss erobert. Karen ließ es sich gern gefallen.
»Julius wartet auf mich.«
Was für eine Konkurrenz, dachte Mansfield. »Lass ihn warten.«
»Meine Wohnung. Sie muss …«
»Du hast gesagt, dass eine Freundin sich darum kümmert. Komm schon, lass mich nicht so viel betteln. Flieg mit mir nach New York.« Er legte seine ganze Überzeugungskraft in einen Kuss, der Karens Beine weich werden ließ.
Es dauerte einige Zeit, bis sie wieder was sagen konnte. »Nein, Michael«, entgegnete sie entschlossen. »Ich werde in zwei Wochen nachkommen.«
»Warum nicht in einer Woche?« Er wollte Karen nicht ohne ein Versprechen gehen lassen.
Sie sah in seine haselnussbraunen Augen, die es schwer machten, ein Gegenargument zu finden. Trotzdem wollte sie es ihm nicht so einfach machen.
»Ich muss noch so vieles erledigen …«, begann sie, aber es war sinnlos. Kein Grund der Welt konnte stark genug sein, um seine strahlenden Augen zu besiegen. Sie seufzte. »Also gut, ich komme in einer Woche nach.«
Das Leuchten in seinen Augen verstärkte sich um das Tausendfache.
»Wunderbar! Mein Vater wird dir seinen Privatjet schicken.«
»Das möchte ich nicht.« Sie legte ihre rechte Hand auf seine Brust und wollte sich von ihm wegstoßen, aber sein kräftiger Arm hielt sie fest.
»Willst du meinen Vater beleidigen? Er mag dich. Er tut das nicht für jeden.«
»Du bist auch nicht mit seinem Privatjet nach Paris geflogen«, entgegnete sie.
»Das war etwas anderes. Ich hatte meine Gründe.«
»Die habe ich auch.«
»Das kann man nicht miteinander vergleichen.«
»Ach nein?«
»Nein.«
»Ich brauche keinen Chauffeur«, sagte sie mit einem trotzigen Funkeln in den Augen.
Mansfield seufzte. »Ich muss wohl nachgeben, damit du mir nicht wieder wie in
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